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Zukunftsutopien made in China

Die Science-Fiction-Szene Chinas boomt. Selbst Mark Zuckerberg und Barack Obama gehören zu den Fans. Der Staat hat das Potenzial erkannt und lässt Zukunftsutopien in Massen fabrizieren. Das hat Folgen für die digitale Kultur aus Fernost.
Andres Eberhard
Filmstill «Wandering Earth»
Erfolgreicher Science-Fiction-Film aus China: «The Wandering Earth» (2019), nach dem Bestseller von Liu Cixin.

In 400 Jahren wird ein Heliumblitz die Erde zerstören. Also begibt sich die Menschheit samt ihrem Planeten auf die Flucht. Mit Hilfe von riesigen Triebwerken rast die Erde dem drohenden Untergang davon.

Das ist die Ausgangslage der Kurzgeschichte «Die wandernde Erde» des chinesischen Science- Fiction-Autors Liu Cixin. Erschienen ist sie im Jahr 2000. 19 Jahre später wurde die Geschichte verfilmt. Der Kinofilm gehört in China zu den erfolgreichsten aller Zeiten und sorgte auch ausserhalb des Landes für Aufsehen: Er wurde bei Netflix ausgestrahlt. Die in diesem Jahr erschienene Fortsetzung läuft auch in internationalen Kinos.

Der Erfolg des chinesischen Blockbusters steht stellvertretend für den seit einigen Jahren herrschenden Hype um chinesische Science-Fiction. So outete sich etwa Facebook-Chef Mark Zuckerberg als Fan der «Wandernden Erde». Genauso Ex-US-Präsident Barack Obama, der den Schriftsteller anlässlich eines Staatsbesuchs traf. Kommendes Jahr strahlt Netflix auch Liu Cixins preisgekrönte «Trisolaris»-Trilogie aus. Der Plot: Die Menschen erfahren, dass Aliens eine Invasion planen. In Teil eins und zwei sind diese unterwegs. In Teil drei wird gekämpft.

In China wird mehr gelesen als gespielt

Woher kommt dieser plötzliche Boom von Science-Fiction aus Fernost? «Zum einen blicken viele neugierig oder ängstlich auf China als Supermacht der Zukunft», sagt Jessica Imbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich. Zum anderen werde zu Zeiten von Klimaerwärmung und anderer globaler Krisen, in die uns scheinbar westliche Visionen geführt haben, nach Alternativen gesucht. «Science-Fiction gilt als Literatur der Ideen. Von der Lektüre chinesischer Science-Fiction erhofft man sich einen Einblick, wohin die Reise der Menschheit gehen könnte.»

Imbach forscht zum Technologiewandel in der chinesischen Literatur und sie ist Herausgeberin eines Buchs zu Digitalisierung der Kultur in China, das Ende 2023 erscheint. In diesem Jahr ist sie mit dem FAN Award im Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften ausgezeichnet worden. Die FAN Awards werden an junge Forschende der UZH für hervorragende wissenschaftliche Leistungen verliehen.

Die Sinologin interessiert sich für gesellschaftliche Veränderungen, die mit dem technologischen Wandel einhergehen – für den Aufstieg der weltweit erfolgreichsten Social-Media-App TikTok beispielsweise, für die digitale Allzweckwaffe WeChat sowie für Gedichte, die von künstlicher Intelligenz geschrieben werden. Der Stellenwert der online verfügbaren Literatur in China ist hoch. Glaubt man offiziellen Statistiken, wird in China im Internet gar häufiger gelesen als Games gespielt – meist über Pay-per-View-Abo-Plattformen.

Imbach muss allerdings Erwartungen enttäuschen, wonach die Lektüre chinesischer Science-Fiction eine Art Blick in die Kristallkugel ist. «Sie unterscheidet sich trotz unterschiedlicher geopolitischer Variablen nicht von amerikanischer Science-Fiction.» Es sei deshalb nicht möglich, von einzelnen Werken etwas über die chinesische Gesellschaft oder die Zukunft der Menschheit abzuleiten.

Imbach

Science-Fiction trägt die Botschaft in die Welt, dass China nicht mehr nur Waren für den Westen produziert, sondern auch Ideen.

Jessica Imbach
Sinologin

Ergiebiger ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was politische Entwicklungen mit dem Aufstieg der Science-Fiction in China zu tun haben. Noch Anfang der neunziger Jahre, als Science-Fiction im Westen längst etabliert war, existierte die Szene praktisch nicht. 30 Jahre später ist China jedoch erstmals Gastgeber der weltweit grössten Science-Fiction-Messe. Eigens für die Konferenz, die Ende Oktober stattfand, wurde in der Stadt Chengdu ein riesiges Museum errichtet. Science-Fiction sei noch deutlich kleiner als beispielsweise Fantasy. Doch der rasante Aufstieg von der marginalen Randliteratur zur staatlich geförderten Kulturindustrie stehe symbolisch für Chinas rasanten technologischen Wandel, so Imbach.

Ihr Erfolg hat Science-Fiction auch für den Staat interessant gemacht. «Erstens fördert Science-Fiction das Interesse an Wissenschaft und Technologie, die in China als Wachstumstreiber extrem wichtig sind», sagt Imbach, «zweitens trägt sie die Botschaft in die Welt, dass China nicht mehr nur Waren für den Westen produziert, sondern auch Ideen.»

Science-Fiction liefert Krisenszenarien

China haftete lange das Image an, ein Innovationsdefizit zu haben. Nun fördert der Staat das Science-Fiction-Genre massiv, um eine Art kulturelles Abbild von Chinas technologischem Aufstieg zu schaffen. Imbach zeigt ein Buch, das Hunderte von Seiten umfasst. Es ist der jährliche Bericht über die chinesische Science-Fiction-Industrie. Trotz der beeindruckenden Produktion hören gerade viele chinesische Science-Fiction-Autoren mit dem Schreiben auf oder wandern in andere Genres ab.

Wie lässt sich dieses Paradox erklären? Der Staat möchte die Zukunft hauptsächlich verwalten. Von Science-Fiction verspreche er sich, dass sie möglichst realistisch Gefahren und Chancen von Technologien auslote, erklärt die Sinologin. «Der technologische Fortschritt, den China für das Wirtschaftswachstum unbedingt braucht, ist mit vielen Unwägbarkeiten und Gefahren verbunden. Science-Fiction soll deshalb quasi Krisenszenarien bereitstellen.»

Wie aber soll ein Autor über eine Alien-Invasion schreiben, wenn er dabei das Schicksal der kommunistischen Partei mitberücksichtigen muss? Voraussehbar ist, dass nur diejenigen Autoren dem Genre treu bleiben werden, die bereit sind, die richtigen Antworten zu liefern – ihrem eigenen kommerziellen Erfolg zuliebe. Tun sie es nicht, droht Zensur

Propaganda statt Gesellschaftskritik

Auch Liu Cixin hat seit vielen Jahren kein neues Werk mehr herausgegeben. Als er Ende der 1980er-Jahre mit dem Schreiben begann, war er als Informatiker in einem Kohlekraftwerk tätig. Sein erster Roman, «China 2185», handelte von der digitalen Auferstehung des chinesischen Ex-Diktators Mao Zedong. Cixin stellte den Text ins – damals noch kleine – Internet. Erst viel später wurde er zum Erfolg, obwohl er nie offiziell publiziert wurde. Gleichwohl gibt es davon bis heute keine vollständige Übersetzung. Gemäss Imbach wohl deshalb, weil der Text auch soziopolitisch kritische Elemente enthält.

In Cixins eingangs erwähnter Kurzgeschichte «Die wandernde Erde» zeigt sich exemplarisch, wie der chinesische Staat den Aufstieg der Science- Fiction für seine Zwecke nutzt. Das bloss 50-seitige Original ist aus der Perspektive eines Schülers geschrieben, der die Sonne noch nie gesehen hat. Der Text kann als technologiekritisch verstanden werden: Was macht das Leben lebenswert, wenn es keine Religion und keine Kunst mehr gibt, wenn nur noch Wissenschaft und Technologie zählen? Im von einer staatlichen Agentur gedrehten Film werden diese Themen nicht behandelt. Superhelden und Hightech aus China retten dort den Planeten.

Aus einer dystopischen Kurzgeschichte mit philosophischen Denkanstössen ist so ein Actionstreifen mit subtiler Propaganda geworden. Liu Cixin selber war bei der Verfilmung als Produzent dabei, ausserdem tourt er als eine Art Technologiebotschafter durchs Land. So führt er beispielsweise das «Science-Fiction Planetary Research Center» der KI-Firma SenseTime. Diese stellt unter anderem Gesichtserkennungssoftware für den chinesischen Staat her. Dass er nicht mehr schreibe, hänge damit zusammen, dass er alles erzählt habe, was er zu erzählen hat. So zumindest erklärte er sich einmal.

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