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Zentrum für literarische Gegenwart

Erzähltes und erzählendes China

Das Zentrum für literarische Gegenwart lädt seit einem Jahr zu horizonterweiternden Gesprächsrunden mit Gästen aus aller Welt ein. Letzten Dienstag traten der chinesische Bestsellerautor Yan Lianke und vier weitere wichtige Vertreter des dortigen Literaturbetriebs vor zahlreich erschienenem Publikum auf und überraschten es mit dem Befund, dass man sich im Reich der Mitte so stark für Fantasy- und Science-Fiction-Literatur begeistere wie im Westen für Netflix-Filme.
Jessica Imbach und Sébastien Fanzun
Jessica Imbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin Sinologie an der UZH, Erfolgsautor Yan Lianke und Literaturprofessor Wang Yao, Soochow-Universität, China. (Foto: zVg)

Gerade da, wo Politik und Ökonomie undurchsichtig und unüberschaubar werden, ist Literatur mehr als eine Nebenbeschäftigung. Mit diesem Gedanken lud das Sinologische Seminar der UZH zusammen mit dem Zentrum für literarische Gegenwart (ZLG) fünf bedeutende Akteure des chinesischen Literaturbetriebs zu einer Podiumsdiskussion an der Universität Zürich: Yan Lianke, einen der wichtigsten chinesischen Schriftsteller der Gegenwart und ewiger Nobelpreisanwärter, und in seiner Begleitung der Chefredakteur der grössten chinesischen Literaturzeitschrift sowie drei Literaturkritiker und Literaturprofessoren.

Millionengeschäft Literatur

Im Gespräch mit der UZH-Sinologin Jessica Imbach erkundeten die Teilnehmenden die paradoxe Landschaft der chinesischen Gegenwartsliteratur: Einerseits wird im heutigen China mehr Literatur gelesen denn je. Insbesondere digitale Literaturplattformen, welche nach einem Streaming-Modell funktionieren und auf denen eine enorme Bandbreite an Genres wie Unsterblichkeits-Fantasy-Geschichten, Matriarchatsromane oder die kontroverse homoerotische Boys-Love-Literatur um die Aufmerksamkeit der Leserschaft buhlen, haben die Literatur längst zu einem Multimillionengeschäft gemacht.

Staatlich propagierte Science-Fiction

Andererseits lastet ein zunehmender Druck auf den Schreibenden und den Verlagen, «gute China-Geschichten» zu erzählen, wie Staatspräsident Xi Jinping es gerne auszudrückt, und ihren literarischen Output politischen und marktwirtschaftlichen Anforderungen anzupassen. Für ihre «pornografische» Literatur landen manche Schriftsteller:innen im Gefängnis, andere werden von nationalistischen Kommentator:innen gemobbt, bis sie aufhören zu schreiben. Es gibt auch Autor:innen wie Yan Lianke, die ihre Texte gleich in Taiwan oder Hongkong publizieren – auch mit dem Kalkül, dass die Texte als Raubkopien im Internet den Weg zurück nach China finden. Dass viele Schriftsteller:innen zunehmend ihr Glück in der lukrativen Fantasy-Literatur oder in der staatlich stark propagierten Science-Fiction suchen, erstaunt in dieser Situation nicht.

Asymmetrische literarische Rezeption

Die Frage nach der Rolle staatlicher Interventionen kam denn auch im intensiven zweistündigen Gespräch mit dem chinesischen Erfolgsautor Yan Lianke immer wieder zur Sprache. Dabei fand Lianke zu bündigen, erhellenden Analysen, die etwa die Rolle der Digitalisierung betrafen oder die Schwierigkeit für jüngere chinesische Schreibende, ihre historische Position literarisch zu reflektieren. Sein Eindruck sei, dass es gar nicht unbedingt die Zensur von oben sei, die die internationale Konkurrenzfähigkeit chinesischer Literatur beschränke, sondern vielmehr der Umstand, dass der Binnenmarkt Chinas so gross und lukrativ sei, dass für Literaturschaffende kaum Anreiz bestünde, ihre Werke auf die künstlerischen Erwartungen eines internationalen oder gar globalen Publikums auszurichten. Daraus resultiere eine Asymmetrie, führte Yan Lianke aus: Während ausländische Literatur in China stark rezipiert werde, würden umgekehrt keine ausländischen Autorinnen und Autoren je von sich sagen, von der chinesischen Gegenwartsliteratur beeinflusst worden zu sein.

Yan Lianke

Was sind Fakten, was ist Fiction?

Ein zentraler Aspekt der chinesischen Situation, wie das Panel sie skizzierte, scheint aber von der nichtchinesischen Welt geteilt zu werden: Zunehmend falle es Chines:innen schwer, zu erkennen, wo ihnen Fakten präsentiert werden und wo Fiktion. Diese komplizierte Gemengelage – welcher Information ist wie zu trauen? – macht Fiktion aber auch zu einem wichtigen Erkenntnisinstrument, betonten die Diskutant:innen unisono.

Literatur schafft Gegenwart

Die Veranstaltung entsprach ganz dem Programm des Zentrums für literarische Gegenwart (ZLG). Das ZLG wurde im Herbst 2022 durch Prof. Philipp Theisohn an der Philosophischen Fakultät der UZH gegründet. Es beschäftigt sich mit der Gegenwart, wie sie durch Literatur nicht einfach nur abgebildet, sondern gemacht wird, und setzt sich zu diesem Zweck für eine stärkere Vernetzung des wissenschaftlichen Betriebs mit dem literarischen Betrieb ein. Indem Akteurinnen und Akteure des zeitgenössischen Literaturbetriebs an die Universität eingeladen und mit den Studierenden in Kontakt gebracht werden, entstehen Schlaglichter auf die künstlerischen und politischen Rollen der Literatur – und zwar in den verschiedensten Ländern und Sprachen: Das ZLG ist mehrsprachlich aufgebaut und knüpft Bande sowohl zwischen dem inner- und dem ausseruniversitären Raum als auch zwischen den verschiedensprachigen Literaturwissenschaften an der Universität selbst.

Liankes Schweizer Vorbild

Gekrönt wurde der Tag durch eine Abendveranstaltung im Zürcher Debattierhaus «Karl der Grosse», wo Yan Lianke vor ausverkauften Rängen über seinen neuesten Roman und seine poetischen Leitlinien sprach – und schliesslich auch über eines seiner grossen Vorbilder: Friedrich Dürrenmatt.

Text: Jessica Imbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin Sinologie an der UZH;  Sébastien Fanzun, Geschäftsleiter des Zentrums für literarische Gegenwart

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