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Porträt

Virtuos und hartnäckig

Kerstin Noëlle Vokinger promovierte in Jura und Medizin, verfügt über das Anwaltspatent und hat einen Masterabschluss von Harvard. Dennoch sieht sich die 34-jährige Professorin nicht als Überfliegerin.
Alice Werner
Porträt von Kerstin Noëlle Vokinger am Klavier.
Immer wenn Gefühle und Gedanken Raum brauchen, setzt sich Kerstin Noëlle Vokinger ans Klavier und spielt.

 

In ihrer Mietwohnung im Zürcher Seefeld steht das Klavier, das ihr Vater ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt hat: ein braunes Dietmann-Piano mit nicht mehr ganz so strahlendem Klang. Aber immer wenn Gefühle und Gedanken Raum brauchen, setzt sich Kerstin Noëlle Vokinger davor und spielt. Werke von Chopin, Debussy, Beethoven. Mit ihren langen dunklen Haaren, die akkurat über den Rücken fallen, und ihrer Aura der Ernsthaftigkeit kann man sie sich mühelos als Konzertpianistin vorstellen.

Selbst im nüchternen Deckenlicht ihres Altbaubüros an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät umweht sie etwas, das man eher von Musikerinnen als von Wissenschaftlerinnen kennt: Demut. Ihre Begrüssung ist von fast amerikanischer Herzlichkeit und ihr Blick offen, doch ihr Verhalten zeugt von leiser Besonnenheit. Nicht schüchtern oder unnahbar, sondern unheimlich bedacht. Ist der Respekt, den man spürt, wenn man ihr zum ersten Mal begegnet, ihrer asiatischen Erziehung zu verdanken? Vokingers Mutter stammt von den Philippinen und hat die Bande zu ihrer Kultur an ihre Kinder weitergegeben. Oder ist das Gefühl etwa einer stereotypisierenden Beobachtung der Besucherin geschuldet?

Immer das Beste aus sich herausholen

Die Frage nach der ethnischen Herkunft ist so eine Sache. Doch Kerstin Noëlle Vokinger wirkt wie eine Frau, die selbstverständlich in verschiedenen Kulturen zu Hause ist. Und die die Frage nach dem familiären Hintergrund nicht per se problematisch findet. «Das Interkulturelle hat mich tatsächlich stark geprägt», sagt sie. Früh macht sie die Erfahrung, dass es bei Vokingers daheim anders läuft als bei Herrn und Frau Schweizer. «Die Familien­struktur war hierarchischer, das Zusammenleben intensiver, in alle Richtungen.»

Ihre Kindheit verbringt sie zusammen mit ihrem acht Jahre jüngeren Bruder in einem Dorf in der Nähe von Baden. Der Vater, ein gelernter Vergolder, der später eine Weiterbildung im Wirtschaftsbereich absolvierte, ist Zürcher; die Mutter kam als 25-Jährige in die Schweiz und arbeitet als Pflegefachfrau. Es ist eine behütete Welt, in der sie viel Liebe erfährt. «Ich komme aus keinem klassischen Akademikerhaushalt. Aber meine Eltern haben mir viele Möglichkeiten eröffnet, mehr als sie selbst hatten.» Die Mutter wünscht sich, dass sich ihre Kinder einmal keine Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. Bildung bereits in frühem Alter ist für sie – nicht zuletzt aufgrund der sozioökonomischen Situation in ihrem Geburtsland – ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg.

Das Wissen um diese Sorgen ihrer Eltern und ihr hohes Verantwortungsbewusstsein lassen in Vokinger schon als Kind den Willen wachsen, «immer das Beste aus mir rauszuholen». Eine Lehre fürs Leben sind für sie auch die Aufenthalte in ihrer zweiten Heimat auf den Philippinen. «Zu sehen, dass viele andere Kinder in meinem Alter nicht annähernd die gleichen Chancen haben wie ich, war für mich ebenso aufwühlend wie prägend.» Dem Leben gegenüber demütig sein – vielleicht ist es das, was Kerstin Noëlle Vokinger auf ihrem aussergewöhnlichen Karriereweg anspornt. Vokinger ist drei, als sie mit dem Klavierspiel beginnt. «Nicht weil ich damals eine besondere musikalische Begabung gezeigt hätte, sondern weil es in unserer Familie einfach dazugehörte, früh ein Instrument zu erlernen.» Am Klavier merkt sie bald, dass es ihr Freude bereitet, durch Üben Fortschritte zu erzielen. Ob man es Ausdauer nennt, Ehrgeiz, Leidenschaft oder intrinsische Motivation: «Das Erlebnis, besser zu werden, durch neue Fertigkeiten neue Welten zu entdecken, hat mir sehr gefallen.» Als Teenager spielt Vokinger manchmal mehrere Stunden am Tag, jahrelang.

Recht, Medizin, Technologie

Längst ist aus der kindlichen Passion fürs Lernen ein Bedürfnis geworden, das sie nimmermüde vorantreibt. Nach der Matura an der Kantonsschule Baden studiert Kerstin Noëlle Vokinger parallel Rechtswissenschaften und Humanmedizin an der UZH, legt anschliessend das Anwaltspatent des Kantons Zürich ab und absolviert das medizinische Staatsexamen. Sie promoviert an der UZH im PhD-Programm Biomedical Ethics and Law, bevor sie ein Jahr später ihre medizinische Dissertation an der Universität Basel einreicht.

Mit 26 absolviert sie ein Masterstudium an der Law School der Harvard University, an der sie gleichzeitig eine Forschungsstelle antritt. Ihren Aufenthalt in den USA krönt sie schliesslich mit einem Postdoc Fellowship an der Harvard Medical School. Zurück in der Schweiz wird sie 2019 zur Assistenzprofessorin für Öffentliches Recht und Digitalisierung an der UZH ernannt, 2021 erfolgt die Habilitation an der Medizinischen Fakultät. Die vorerst letzte Etappe auf ihrem akademischen Weg hat sie gerade erreicht: eine auf ihr Forschungsprofil zugeschnittene Doppelprofessur an der Rechtswissenschaftlichen und der Medizinischen Fakultät der UZH.

Als Professorin für Recht, Medizin und Technologie entwickelt sie gemeinsam mit ihrem multidisziplinär aufgestellten Forschungsteam unter anderem Lösungsansätze, wie der Zugang der Gesellschaft zu neuen medizinischen Therapien und Medizinprodukten sowie zu anderen innovativen Technologien verbessert werden kann. «Wir analysieren beispielsweise interdisziplinär neue Entwicklungen in der Technologie wie künstliche Intelligenz sowie vielversprechende Krebs- und Gentherapien im Hinblick auf Chancen, Nutzen, Kosten und Risiken für die Betroffenen und die Gesellschaft», erzählt Vokinger im Gespräch.

Ihr Ziel ist, praktisch relevante Forschung zu betreiben und Gesetzgebern, Behörden, internationalen Organisationen und weiteren Stakeholdern konkrete Vorschläge zu unterbreiten – beispielsweise zu einem sinnvollen Preisfestsetzungsverfahren für Arzneimittel oder zur Regulierung von künstlicher Intelligenz. Für ihre ebenso relevanten wie einzigartigen interdisziplinären Forschungsbeiträge an der Schnittstelle von Recht, Medizin und Technologie ist Kerstin Noëlle Vokinger im Herbst 2022 mit dem renommierten Schweizer Wissenschaftspreis Latsis für Nachwuchsforschende ausgezeichnet worden. Recht und Medizin – beide Disziplinen faszinieren Kerstin Noëlle Vokinger schon früh. «Anwälte und Ärztinnen waren für mich Menschen, die helfen und Gutes tun.» Mit dieser romantisierenden Vorstellung beginnt sie als frischgebackene Maturandin ihr Jurastudium – und merkt bereits im ersten Semester, dass Recht und Gerechtigkeit nicht zwingend dasselbe sind. Über ihre damalige Naivität schüttelt die Professorin heute nachsichtig den Kopf. «Damals hat mich dieser Konflikt aber stark beschäftigt. Ich dachte, dass Medizin vielleicht besser zu meinen Wertvorstellungen passt.»

Aufsteigender Stern

Im zweiten Semester realisiert Vokinger, «dass es auch an einem selber liegt, mit dem angeeigneten Wissen Recht und Gerechtigkeit in Einklang zu bringen». Nach Bestehen des Numerus clausus in Medizin entscheidet sie sich schliesslich dafür, beide Disziplinen zu studieren – die Jurisprudenz im Schattenstudium. Fast entschuldigend zuckt Kerstin Noëlle Vokinger jetzt mit den Schultern: «Wenn ich von etwas überzeugt bin, suche ich hartnäckig nach Wegen.» Ihrer Meinung nach verfügt sie über keine ausserordentlichen Talente, die sie zum Doppelstudium befähigen. «Ich war gut organisiert und habe viel gearbeitet.» Und natürlich sei sie zwischendurch auch an ihre Grenzen gestossen. Die Unterstützung ihrer Professorinnen und Professoren, allen voran ihres Mentors und Doktorvaters Thomas Gächter, des Dekans der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, geben ihr die Motivation, das Doppelstudium durchzuziehen. Und auch ihre Familie spornt Vokinger an, trotz aller Mühe ihre Ziele zu verfolgen.

Kerstin Noëlle Vokinger wirkt jung und ist es auch. In diesem Jahr ist sie 34 geworden. «Eigentlich konnte ich mir nie vorstellen, Professorin zu werden», meint sie am Ende des Gesprächs offenherzig. «Für mich waren Professorinnen Persönlichkeiten, die alles wissen und können. Eine akademische Karriere habe ich mir daher lange Zeit nicht zugetraut.» Und das sagt eine, die international als aufsteigender Stern gehandelt wird. Erst während ihrer Zeit in den USA fasst sie den Mut, in die Wissenschaft zu gehen – nicht auf ausgetretenen Pfaden, sondern einen neuen, interdisziplinären Weg einzuschlagen. Dass sie mit 31 Jahren an die Universität Zürich berufen wird, empfindet sie als grosses Glück. Mittlerweile ist sie fast vier Jahre dabei und weiss, dass Professorin für sie «der perfekte Beruf ist». Ein bisschen muss sie jetzt über sich selbst schmunzeln – und wirkt dabei noch jugendlicher.

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