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David Dorn: Die Wirtschaftswissenschaften haben sich lange Zeit vor allem mit aggregierten Zahlen und Durchschnittsgrössen beschäftigt. Man hat etwa untersucht, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verändern wird. Seit einigen Jahrzehnten beobachtet man aber in westlichen Ländern, dass die Einkommensunterschiede stark gewachsen sind. Das hat viel dazu beigetragen, dass wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zu Kernthemen der Ökonomie geworden sind. Mich selbst hat ein Aufenthalt an der Public Policy School der Universität Chicago geprägt. Dort setzen sich hervorragende Forschende aus verschiedenen Fachrichtungen mit sozialen Problemen auseinander: Armut, Ungleichheit, Diskriminierung. Sie beschäftigen sich nicht bloss mit abstrakten Konzepten, sondern mit sehr konkreten Herausforderungen – das hat mich begeistert.
Dorn: Der häufigste Grund, der für die zunehmende Ungleichheit genannt wird, ist der technologische Wandel. Die Nachfrage nach gut qualifizierten Arbeitskräften ist gestiegen, doch für weniger gut ausgebildete Arbeitnehmende ist sie gesunken. Zudem haben die Gewerkschaften an Einfluss verloren, das hat den Niedriglohnverdienern geschadet. In den USA ist die Einkommensungleichheit besonders dramatisch gestiegen. In der Schweiz war die Einkommensverteilung – abgesehen von den Spitzenlöhnen, die massiv gestiegen sind – in den letzten Jahrzehnten dagegen recht stabil.
Dorn: Das ist noch nicht abschliessend beantwortet. Wir haben am Universitären Forschungsschwerpunkt «Equality of Opportunity» ein Forschungsprojekt, das genau diese Frage untersucht. Die Schweiz hat vermutlich von mehreren Faktoren profitiert. Einerseits gab es bei uns in den letzten Jahrzehnten nicht mehr viele niedrigqualifizierte Fabrikarbeiter, die ihre Jobs wegen Automatisierung oder Globalisierung hätten verlieren können. Andererseits konnten etwa die Schweizer Pharmaunternehmen stark von der Globalisierung profitieren. Zudem haben die Unternehmen vielleicht auch erkannt, dass es nicht in ihrem Interesse ist, die Löhne maximal zu drücken.
Dorn: Im Vergleich zu den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es drei Faktoren, die sich ungünstig entwickelt haben. Erstens haben wir relativ zu den 1950er- und 1960er-Jahren weniger Wirtschaftswachstum pro Kopf. Zweitens können wir in vielen Ländern beobachten, dass der Anteil der Arbeitslöhne an der Wirtschaftsleistung sinkt, während jener der Kapitaleigner steigt. Drittens wird die Lohnsumme ungleicher unter den Arbeitnehmenden verteilt. Wenn man diese drei Faktoren kombiniert, bedeutet das, dass in Ländern wie den USA über die letzten Jahrzehnte Menschen im unteren Bereich der Einkommensverteilung einen Einkommensrückgang erlitten haben. Obwohl es insgesamt Wirtschaftswachstum gegeben hat, ist deshalb die Kaufkraft nur an der Spitze gestiegen, unten ist sie sogar gefallen. Das hat eine enorme Wirkung auf die Zufriedenheit der Menschen – wirtschaftlich, aber auch politisch gesehen. In den USA sieht man ganz deutlich, dass grössere Bevölkerungsgruppen sich vom System abwenden und ihm die Legitimität absprechen.
Dorn: Ja, meine Forschung hat deutlich gemacht, dass in den USA Wähler in Gebieten mit einem grossen Rückgang der industriellen Produktion dazu neigen, rechtskonservative Politiker und dann auch Donald Trump zu wählen. Für viele dieser Wähler funktioniert das gegenwärtige System nicht. Deshalb haben sie die Hoffnung, dass eine ganz andere Politik ihre Situation verbessert.
Dorn: Bis zu einem gewissen Grad schon, insbesondere weil diese Parteien die Abstiegsprobleme und -ängste ansprechen und Lösungen dafür versprechen. Donald Trump hatte zum Beispiel versprochen, die Industriebeschäftigung in die USA zurückzuholen und den Leuten ihre alten Jobs zurückzugeben. Inzwischen wissen wir, dass das nicht wirklich gelungen ist. Aber die Wähler verlassen sich zuweilen auf die Hoffnung. Das ist eine Entwicklung, die man auch in europäischen Ländern feststellen kann, etwa in Italien – einem Land, das seit längerer Zeit im Krebsgang ist und in dem ständig neue Hoffnungsträgerinnen oder -träger an die Macht kommen.
Dorn: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatten wir auch in der Schweiz eine ganz andere Branchenstruktur als heute. Damals arbeiteten sehr viele Menschen in der Landwirtschaft, einem Sektor, in dem heute nur noch wenige beschäftigt sind. Andere Branchen sind dagegen stark gewachsen oder gar neu entstanden, vor allem im Dienstleistungssektor. Solche immensen Branchenverschiebungen sind ein ganz normaler Teil der wirtschaftlichen Entwicklungen und nicht grundsätzlich negativ zu beurteilen. Problematisch ist, dass die Globalisierungswelle der 2000er-Jahre in manchen Ländern zu einem dramatisch schnellen Niedergang des Industriesektors geführt hat. In den USA und in Grossbritannien sind innerhalb eines Jahrzehnts 20 bis 30 Prozent aller Industriejobs verloren gegangen. Im Nachhinein wäre es wünschenswert gewesen, dass man in diesen Transformationsprozess verlangsamend eingegriffen hätte.
Dorn: Möglichkeiten gibt es etwa bei der Regulierung des Handels. Die WTO erlaubt temporäre Schutzzölle, wenn Importe sehr schnell anwachsen und gleichzeitig die heimische Industrie sehr schnell schrumpft. Ich sehe das als Notbremse, um Massenarbeitslosigkeit und die damit einhergehenden sozialen Härten zu vermeiden. Die zweite mögliche Intervention ist, den Menschen, deren Job verloren ging, zu helfen. Es geht darum, dramatische finanzielle Notlagen zu mindern und die Menschen durch Weiterbildung und Beratung zu unterstützen, den Weg zu einer neuen Stelle zu finden. Diese Unterstützung ist in europäischen Ländern deutlich besser ausgebaut als in den USA. Grundsätzlich muss man sich aber bewusst sein, dass mit allen Massnahmen, die strukturerhaltend sind, immer auch Zielkonflikte entstehen. Der verlangsamte Strukturwandel schützt zwar Arbeitsplätze von bestimmten Erwerbstätigen, er verringert aber auch die Vorteile, welche die Globalisierung oder Automatisierung mit sich bringt, etwa den Zugang der Konsumenten zu billigeren Produkten.
Dorn: Der wichtigste Mechanismus zur Umverteilung sind Steuern und staatliche Leistungen. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob man die Gutverdienenden stärker besteuern und die Niedrigverdienenden mehr unterstützen sollte. Viele Ökonomen befürworten vor allem eine Steuer auf sehr grossen Erbschaften. Dies wäre wohl weniger schmerzhaft als andere Steuern und würde die Wirtschaft nicht stark negativ beeinflussen.
Dorn: Neben repetitiven Tätigkeiten in der industriellen Fertigung, die durch Maschinen und Roboter ersetzt wurden, werden zunehmend auch bestimmte Arbeitsprozesse im Büro – beispielsweise Buchhaltung und Datenmanagement – durch Software ersetzt. Dies führt zu einer Polarisierung des Arbeitsmarkts: Das Beschäftigungswachstum findet bei den am besten bezahlten und bei den am schlechtesten bezahlten Berufen statt; bei Büro- oder Fabrikjobs mit mittlerer Bezahlung geht die relative Beschäftigung zurück. Auf die Zukunft gerichtet gibt es eine grosse Debatte, ob künstliche Intelligenz diese Entwicklung grundlegend verändert. Einzelne Forscher prognostizieren, dass auch Tätigkeiten, die wir bislang als hochkomplex betrachtet haben, von Maschinen übernommen werden.
Dorn: Bislang zeigt die Forschung klar, dass künstliche Intelligenz noch zu keinem grossen Verdrängungseffekt im Arbeitsmarkt geführt hat. Es gibt weiterhin viele Tätigkeiten, die für Menschen intuitiv funktionieren, für Maschinen aber schwierig sind. Das zeigt das Beispiel der selbstfahrenden Autos – die Technologieentwicklung erweist sich dort als viel schwieriger als anfänglich angenommen. Was man in den Daten auch deutlich sieht: In vielen Bürojobs stagniert die Beschäftigung. Es zeichnet sich jedoch nicht ab, dass Jobs für Universitätsabsolventen schwinden. Wir sind noch lange nicht so weit, dass Ärztinnen und Ärzte wegen medizinischer Roboter um ihre Stelle bangen müssen. Die relativen Stärken der Menschen gegenüber den Maschinen sind Kreativität und die Fähigkeit, Probleme zu lösen und mit anderen Menschen zu interagieren. Das ist für Maschinen anspruchsvoll, weil sie nach festgelegten Schemata funktionieren und nicht «out of the box» denken können.
Dorn: Am UFSP beschäftigen wir uns in drei Modulen mit der Thematik: Wir erforschen, wie ökonomische Ungleichheit entsteht und was die treibenden Faktoren für zunehmende Ungleichheit sind. Wir versuchen zu verstehen, wie sich die Beurteilung von Ungleichheit in der Gesellschaft verändert und welche politischen Forderungen daraus entstehen. Und wir beschäftigen uns mit konkreten Möglichkeiten, die Chancengleichheit zu verbessern – seien dies Veränderungen der juristischen Rahmenbedingungen wie Diskriminierungsverbote oder Reformen des Steuer- oder des Bildungssystems, die dazu beitragen, das die Weitervererbung von Ungleichheit über die Generationen hinweg abgeschwächt wird.
Dieses Interview ist zuerst im UZH Magazin 4/22 erschienen.