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Mit dem Fahri zur Arbeit

Die Schweizer Amischen im amerikanischen Berne verständigen sich bis heute auf Shwitzer. Entstanden ist dieses aus dem Berndeutsch von Emmentaler Täufern. Die Sprache ist aber keineswegs archaisch, sondern höchst innovativ und quicklebendig.
Ümit Yoker
Amische im Adams County, Indiana, USA.
Die Amischen haben sich nicht nur ihre Sprache erhalten, sondern auch ihre traditionelle Lebensweise (Bild: Adams County, Indiana, USA/Alamy)

Als Anja Hasse zum ersten Mal in Berne ankommt, einem beschaulichen Städtchen mit einer Kopie des Zytgloggeturms im Zentrum, drei Autostunden von Chicago entfernt im Mittleren Westen, ist sie erst einmal ziemlich aus dem Häuschen: Nicht nur trifft die Sprachwissenschaftlerin alle naselang auf altmodisch gewandete Grossfamilien, die mit der Pferdekutsche zu PizzaHut fahren und auch sonst einem Filmset entsprungen scheinen – sie unterhalten sich auch noch in einer Sprache, die ganz erstaunlich nach Berndeutsch klingt.

Die Schweizer Amischen in Adams County zählen zu den konservativsten Gruppen der Glaubensgemeinschaft (siehe Box, unten). Sie lehnen jegliche Technologie ab und leben ohne Strom und fliessendes Wasser – aber nicht hinter dem Mond, wie Hasse betont. «Auch Amische wissen, wie man an einem Touchscreen Cappuccino bestellt.» Zwar liegen ihre Höfe abgelegen und verstreut um Berne herum, doch arbeiten viele Männer als Handwerker in der Stadt. Wie der Durchschnittsamerikaner kaufen auch amische Familien regelmässig bei Walmart ein, Selbstversorger gibt es nur noch wenige in der Gegend. Und auch Amische brauchen manchmal ein paar Pferdestärken mehr, als die eigene Kutsche bietet: «Am Steuer sitzt dann aber ein Fahri», erklärt die Wissenschaftlerin, die am Deutschen Seminar der UZH forscht. Fahri nennen die Amischen jene Amerikaner, die sie mit dem Auto zur Arbeit oder zum Grosseinkauf bringen.

Gegen Eid und Kriegsdienst

Der Fahri also. Auch die Sprache trennt die Amischen um Berne – von der englischsprachigen Mehrheitsgesellschaft, aber auch von den anderen Amischen, von denen die meisten das sogenannte Pennsylvaniadeutsch sprechen. Die Schweizer Amischen verständigen sich auf Shwitzer, einer Sprache, die aus dem Berndeutsch ihrer Vorfahren entstanden ist. Wie dieses Shwitzer Jahrhunderte überdauern und sich gleichzeitig stets weiterentwickeln konnte, untersucht Hasse mit weiteren Forscherinnen und Forschern seit 2020 im Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds.

Die Wurzeln aller Amischen, nicht nur der Gemeinschaft in Adams County, reichen bis ins 16. Jahrhundert zu den ersten Täufern im Emmental zurück. Die Lehren Zwinglis und Luthers gingen diesen Christen damals zu wenig weit; sie betonten die Freiwilligkeit der Kirchenmitgliedschaft, die Erwachsenentaufe wurde zum zentralen Element der Bewegung. Die Täufer lehnten sowohl den offiziellen Kirchgang als auch Eid und Kriegsdienst ab und warfen Kirche und Obrigkeit eine unheilvolle Allianz vor, wie es im Historischen Lexikon der Schweiz heisst.

Anja Hasse

Auch Amische wissen, wie man an einem Touchscreen Cappuccino bestellt.

Anja Hasse
Linguistin

Der Zorn über solche Verweigerung und Kritik liess nicht lange auf sich warten: Gläubige in Bern und Zürich wurden ins Gefängnis gesteckt oder gefoltert, vertrieben oder hingerichtet. Die Täufer aus dem Emmental flohen ab 1650 vor allem in die Franche-Comté und den Berner Jura. Ende des Jahrhunderts spaltete sich die Gemeinschaft in zwei Zweige auf: die Amischen, die eine striktere Abspaltung von der Mehrheitsgesellschaft verlangten und dem Berner Prediger Jakob Amman folgten, daher auch der Name der Bewegung – und die Mennoniten, die diese Haltung nicht teilten. Mitglieder beider Gruppen siedelten im 18. und 19. Jahrhundert in die Vereinigten Staaten über, wo die Mennoniten 1852 schliesslich das Städtchen Berne gründeten.

Noch heute leben Amische und Mennoniten in Adams County nebeneinander, ihr Alltag hat aber praktisch keine Berührungspunkte mehr. Während sich Erstere weiter deutlich von der Mehrheitsgesellschaft absondern, unterscheiden sich die Mennoniten in Lebensweise und Auftreten kaum noch von der amerikanischen Durchschnittsbevölkerung. Diese Distanz schlägt sich auch in der Sprache nieder: Im europäischen Exil hatten sich einst noch beide Gemeinschaften das Berndeutsch ihrer Vorväter bewahrt, da dort weder die eine noch die andere Gruppe nennenswerten Kontakt zur französischsprachigen und katholischen Bevölkerung pflegte. Nach ihrer Ankunft in den USA aber begannen sich die Varietäten immer mehr voneinander zu entfernen. Heute existieren sie als zwei unabhängige Sprachinseln.

Abgeschottete Lebensweise

Hasse hat auf ihren Feldforschungsaufenthalten vor allem Gespräche mit Amischen geführt – im Rahmen eines SNF-Projekts unter der Leitung von Linguistik-Professor Guido Seiler vom Deutschen Seminar der UZH.

Das Shwitzer der Amischen ist aus mehreren Gründen aussergewöhnlich: Sprachinseln wie diese würden normalerweise nach zwei oder spätestens drei Generationen aussterben, sagt die Linguistin. «Shwitzer aber sprechen heute viel mehr Menschen als noch vor hundert oder zweihundert Jahren.» Genaue Zahlen gibt es nicht, da die Amischen nicht an Volkszählungen teilnehmen, es dürften jedoch mehrere Tausend sein, schätzt Hasse. «Die amische Bevölkerung verdoppelt sich alle 20 bis 25 Jahre.» Die hohe Geburtenrate, das isolierte Leben und dass kaum je jemand die Gemeinschaft verlässt, erklärt aber allein noch nicht, wie die Sprache so lange überleben konnte. Hasse sagt: «Shwitzer ist auch ein wichtiges Element der Abgrenzung und Identitätsstiftung.»

Die abgeschottete Lebensweise der Amischen scheint der ideale Nährboden zu sein, auf dem die Sprache erhalten bleiben und gleichzeitig mit der Zeit gehen kann. Denn: Shwitzer ist keineswegs eine archaische Sprache mit schwerfälligen Begriffen, die kein Mensch mehr versteht, sondern quicklebendig und innovativ, wie das Forschungsteam der UZH feststellt. «Die Sprache ist noch heute höchst funktional», sagt Hasse. «Nie bestand Gefahr, dass die Gemeinschaft zu einer anderen Muttersprache übergehen würde.»

Englisch als Zweitsprache

Ganz im Gegensatz zum Berndeutsch der Mennoniten: Dieses dürfte zwar immer noch ziemlich genau so klingen, wie es einst die immigrierten Täufer gesprochen haben – nur verwendet es heute niemand mehr. Längst ist Englisch zur Erstsprache der progressiven Gemeinde geworden.

«Bei unserem letzten Besuch in Berne trafen wir noch genau eine Sprecherin an», erzählt Hasse. Wie die wenigen anderen Mennonitinnen und Mennoniten in der Umgebung, die des Berndeutschen noch mächtig sind, war auch sie weit über achtzig Jahre alt. Die Amischen dagegen bringen ihrem Nachwuchs nach wie vor zuallererst Shwitzer bei. Englisch lernen die Kinder erst später in der Schule.

Einflussreiches Pennsylvaniadeutsch

Überrascht hat Hasse auch, wie sich Shwitzer entwickelt hat. In den meisten Fällen von Sprachkontakt werden Wörter aus einer anderen Sprache entlehnt, die sich dann irgendwann in Aussprache, Schreibweise und Flexion der ursprünglichen anpassen. Beispiele im Deutschen etwa sind Streik aus dem englischen strike oder Mauer von latenisch murus. «Shwitzer aber hat seinen berndeutschen Wortschatz und seine Aussprache weitgehend beibehalten», sagt Hasse. «Satzstruktur und Grammatik dagegen wurden stark von aussen beeinflusst.» So hat sich auf Shwitzer beispielsweise ein echtes Futur als Zeitform herausgebildet.

Den grössten Einfluss übt hier nicht etwa das amerikanische Englisch aus, sondern das Pennsylvaniadeutsche. Zu den Schweizer Amischen dürfte die aus dem Pfälzischen entstandene Sprache hauptsächlich über zugeheiratete Frauen aus anderen amischen Gemeinschaften finden. Hasse hat darum auch eine Vermutung, wie es zu dieser ungewöhnlichen Sprachentwicklung kommen konnte: Diese Frauen wollten sich gut in die Gemeinschaft einfügen und darum auch möglichst schnell die neue Sprache lernen, vermutet die Linguistin. «Wortschatz und Aussprache lassen sich aber leichter bewusst übernehmen als grammatische Strukturen.» Gewisse Regeln und Konstrukte des Pennsylvaniadeutschen würden also oft unwissentlich beibehalten und so an die nächste Generation weitergegeben.

Auf ihrer ersten Reise nach Berne stellte Hasse nach ein paar Tagen fest: Auch der Anblick von Frauen, die nie ohne ein Häubchen aus dem Haus gehen, oder von Pferdeanbindestangen vor Fastfoodlokalen und Supermärkten wird erstaunlich schnell normal. «Viele sprachtheoretische Fragen, die sich aufgrund dieser ungewöhnlichen Lebensweise erörtern lassen», fügt die Wissenschaftlerin an, «dürften noch lange spannend bleiben.»