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Politikwissenschaften

«Demokratie und Solidarität müssen gestärkt werden»

Wir erleben einen Moment der Weltgeschichte, in dem viele Gewissheiten in Frage gestellt werden. Doch statt in Pessimismus zu verfallen, sollten die positiven Kräfte gefördert und die Probleme angegangen werden, sagen der Rechtswissenschaftler Matthias Mahlmann und die Politikwissenschaftlerin Stefanie Walter.
Thomas Gull
Die Attrappe eines Luftverteidigungssystems wird aufgeblasen, bei Moskau, 2012.
Die Attrappe eines Luftverteidigungssystems wird aufgeblasen, bei Moskau, 2012.

 

In den 1990er-Jahren formulierte der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama seine These vom Ende der Geschichte. Nach dem Ende der Sowjetunion prognostizierte Fukuyama den endgültigen Sieg von Demokratie und Liberalismus. Dreissig Jahre später scheint dieses Szenario in weite Ferne gerückt zu sein. Wir erleben vielmehr einen Moment der Weltgeschichte, in dem scheinbare Gewissheiten in Frage gestellt werden. Das gilt für den Ukraine-Krieg, der die europäische Friedensordnung zerstört hat, und die imperialen Ambitionen Russlands und Chinas, die die USA herausfordern. Es gilt aber auch für die rechtspopulistischen Bewegungen, die an der demokratischen Grundverfassung vieler Staaten rütteln.

Stefanie Walter, Matthias Mahlmann: Verändert sich gerade das geopolitische Kräfteverhältnis, insbesondere zwischen China und den USA?

Stefanie Walter: Es gibt immer wieder Phasen der Grossmachttransition und ich denke, dass wir aktuell in eine solche eintreten. Doch wohin es geht, ist noch nicht ausgemacht. Ein wichtiger Indikator für die geopolitische Bedeutung eines Landes ist die Wirtschaftskraft. Da sehen wir starke Veränderungen. Während der letzten hundertfünfzig Jahre waren die USA und europäische Staaten an der Spitze, jetzt mischen Länder wie China und Indien immer stärker mit. China kehrt damit auf eine Position zurück, die es bereits früher innehatte: Das Land war jahrhundertelang die grösste Wirtschaftsmacht der Welt, nur war diese damals viel weniger vernetzt als heute. Wirtschaftliches Gewicht wirkt sich auch auf die militärische Macht von Staaten aus, sodass sich auch hier eine Verschiebung der Gewichte andeutet. Nicht überraschend fordern Schwellenländer, allen voran China, jetzt mehr Mitspracherechte auf internationaler Ebene, etwa im IWF.

Matthias Mahlmann: Wenn man ernsthaft über die Geschichte nachdenkt, wird sehr schnell klar, dass sie nicht im hegelianisch verbrämten Sinne zu Ende gehen kann, wie dies Fukuyama formuliert hat. Wir sehen, dass die Geschichte sich weiterentwickelt und dabei schwer kontrollierbare Kräfte eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören ökonomische Entwicklungen, aber auch neue Ideologien. Unter Xi Jinping scheint sich China neu auszurichten, im Innern und in der Aussenpolitik. Das zeigen etwa die globalen Infrastrukturprojekte, mit umstrittenen Ausläufern wie der Beteiligung am Hamburger Hafen, die nach den Erfahrungen mit der Abhängigkeit von russischen Rohstoffen zu Recht geostrategisch diskutiert werden. Wichtig ist für China auch der wissenschaftliche Aufschwung, der einen zentralen Beitrag zur wirtschaftlichen Stärke leisten soll. In Russland spielt die ideologische Entwicklung im Land eine herausragende Rolle. Putins Russland 2022 ist nicht Putins Russland 2010. Da hat sich vieles zum Schlechteren entwickelt. Der neue ideologische Nationalismus ist auch ein Grund für den Ukraine-Krieg. In den USA wandelt sich die Gesellschaft und das kann erhebliche geostrategische Konsequenzen haben.

Die Abdankung der USA als Hegemon wird schon länger vorhergesagt. Der chaotische Abzug aus Afghanistan schien diese These zu bestätigen. Feiern die USA mit dem Ukraine-Krieg ein Comeback als internationale Ordnungsmacht?

Mahlmann: Der Abzug aus Afghanistan ist kein Indiz für den Abstieg der US, sondern das Ergebnis einer aus der Sicht der Entscheidungsträger ernüchternden Bilanz dessen, was man in zwanzig Jahren dort erreicht hat. Ob es in Anbetracht der Folgen eine weitsichtige Entscheidung war, ist eine ganz andere Frage. In den USA sehen wir eine Art politischen Glaubenskampf, auch in aussenpolitischen Fragen. Trump hat eine ganz andere Aussenpolitik betrieben als jetzt die Biden-Regierung. Er kündigte Allianzen auf, hatte ein merkwürdiges Verhältnis zu Russland und versuchte, die EU zu unterminieren. Das scheint mir das Problem zu sein: Wie entwickeln sich die USA im Innern, und wie wirkt sich das auf die Aussenpolitik aus? Dass die USA als machtpolitischer Faktor verschwinden werden, halte ich für abwegig.

Walter: Ich würde sagen, «America first», die isolationistische Wende, wie das in den USA genannt wird, hat bereits unter Präsident Obama begonnen. Die USA sind heute isolationistischer, internationalen Militäreinsätzen gegenüber skeptischer, und sich schotten sich auch bei der Migration stärker ab. Der Ukraine-Krieg ist dabei eher eine Ausnahme in dieser Entwicklung. Bereits Obama hat sich in internationalen Konflikten wie beispielsweise in Syrien stark zurückgenommen. Und in der Sache agiert auch Präsident Biden gar nicht so anders als Präsident Trump. Vieles, was Trump angestossen hat, setzt Biden fort – das beste Beispiel ist der Handelskrieg mit China. Dennoch ist der Ton der Biden-Regierung ein anderer, während Trumps Stil viel konfrontativer war und viel Geschirr zerschlagen hat. Auch das ist in der internationalen Politik wichtig. Trotzdem: Die USA bleiben auf absehbare Zeit der Hegemon, daher ist es für den Rest der Welt auch so wichtig, wie sie sich positionieren.

Russland galt als Grossmacht wegen seiner Armee und der Atomwaffen. Dies mit einem BIP, das nicht wesentlich grösser ist als das von Spanien. Hat sich Russland mit dem Ukraine-Krieg selbst demontiert?

Mahlmann: Russland hat auf verschiedenen Ebenen grosse Verluste erlitten: militärisch und wirtschaftlich. Geostrategisch ist das Land heute isoliert, und es hat sich in eine unglaubliche Abhängigkeit von Indien und China manövriert. Dafür wird Russland noch lange einen hohen Preis bezahlen. Ausserdem ist der Mythos der unbesiegbaren russischen Panzertruppen, die ein Land schnell erobern können, zerplatzt. Was wir nicht abschätzen können, ist, wie delegitimierend auf das Herrschaftssystems Putins der Krieg und die Verluste im Innern wirken.

Walter: Da stimme ich zu: Der Verlust des Mythos der Unbesiegbarkeit wird noch lange nachwirken. Trotzdem hat Russland nach wie vor ein grosses Arse­nal an Atomwaffen. Das gibt dem Land einen Status, den viele andere Staaten nicht haben. Daraus ergeben sich auch schwierige Fragen: Was würde beispielsweise im Fall eines Bürgerkriegs mit all den atomaren Sprengköpfen passieren? Dass Putin gestürzt werden könnte, ist nicht mehr völlig undenkbar. Doch das bedeutet ja nicht automatisch, dass es in der Ukraine Frieden gibt und Russland wieder demokratisch wird. Im Moment steht Putin ja eher vonseiten der Hardliner unter Druck. Das russische Volk leidet zwar. Aber Putin hat ein sehr repressives System etabliert. Da ist es für das Volk sehr schwierig, aufzustehen und sich zu wehren.

China hat lange Zeit dem Credo der friedlichen Konkurrenz mit dem Westen nachgelebt. Mittlerweile betreibt das Land eine viel aggressivere Aussenpolitik. Selbst ein vergleichbares Szenario wie in der Ukraine ist denkbar, nämlich dass China Taiwan angreift. Was bedeutet das für die Zukunft?

Mahlmann: China wartet im Moment ab, wie sich die Welt neu sortiert und wie der Ukraine-Krieg ausgeht. Sicher ist: Viele Sieger werden da nicht vom Platz gehen. Was wir sehen, ist ein planvolles Vorgehen Chinas, etwa beim Zugriff auf westliche Ressourcen. Da gab es lange Zeit eine gewisse Naivität des Westens gegenüber der chinesischen Wirtschaftspolitik, die eben auch Machtpolitik ist.

Walter: Hier sieht man gut die strategische Tragweite einzelner Entscheide: Wenn der Westen Russland den Einmarsch in die Ukraine hätte durchgehen lassen, wäre China vielleicht schon in Taiwan einmarschiert.

Ist der Westen nach der Erfahrung mit Russland aufgeschreckt und deshalb China gegenüber kritischer?

Walter: Es gibt ein grösseres Bewusstsein für die geopolitische und strategische Seite der Beziehung zu China. Westliche Staaten haben China zum Beispiel jahrelang viele Technologien überlassen. Xi Jinping hat am letzten Parteitag betont, China wolle bei Technologie weltweit führend werden. Die USA haben diesen Ambitionen nun mit weitreichenden Exportkontrollen für Computerchips einen Dämpfer aufgesetzt. Wichtig ist auch, wer internationale Standards setzen kann. Da muss der Westen aufpassen, dass er die Führungsrolle nicht verliert, und tut das mittlerweile auch. Daneben setzt China traditionell auf Infrastrukturförderung. In diesem Bereich haben sie in den vergangenen Jahren stark investiert, etwa mit der Silk Road und in Afrika. Das hat auch dazu geführt, dass viele Entwicklungsländer hohe Schulden bei China haben. Das gibt grosse Abhängigkeiten und ermöglicht China den Zugriff auf wichtige Infrastrukturen in diesen Ländern. Die G7-Staaten versuchen nun eine Art Gegenprogramm aufzulegen, um hier nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Weshalb setzt China, das mit der friedlichen wirtschaftlichen Konkurrenz gut gefahren ist, jetzt auf eine aggressivere, imperialistische Aussenpolitik?

Mahlmann: Wenn imperiale Politik abwegig wäre, wäre die Weltgeschichte ein weniger blutiges Spektakel. Doch offenbar ziehen solche Ideen Machthaber immer wieder an. So ist der Krieg in der Ukraine sicher nicht nur ein Gewaltmittel gegen eine befürchtete NATO-Expansion, sondern auch ein ideologischer Krieg, basierend auf der merkwürdigen nationalistisch-imperialistischen Vision eines berauschend imaginierten Grossrussland, dessen Einheit man wiederherstellen will. Aus der Sicht der Ideologen sind die Opfer an Menschen und die ökonomischen Folgen den Preis wert, der für die Erfüllung des Traums von Grösse bezahlt werden muss. Darauf kann man nicht mit der Feststellung reagieren, das sei irrational. Solche ideologischen Motive sind ein wichtiger Teil der Weltgeschichte und haben sie oft vorangetrieben. Zwischen China und Taiwan geht es eher um Machtpolitik. China sagt sich: Taiwan gehört traditionell zu China und muss jetzt wieder einbezogen werden in unsere Machtsphäre.

Die Lehre für China aus dem Ukraine-Krieg könnte sein, dass der Preis möglicherweise zu hoch ist?

Mahlmann: Das ist sicher einer der Gründe, dass die USA die Ukraine jetzt so stark unterstützen. Sie zeigen damit: Wenn wir ein Land unterstützen, ist es nicht so leicht zu besiegen. Es ist eindrücklich, welchen technologischen Vorsprung die USA haben. Ich würde mich allerdings freuen, wenn die Technologie dem Frieden dienen würde.

Wechseln wir auf die nationalstaatliche Ebene. Da ist in manchen Ländern die demokratische Ordnung unter Druck, vor allem von rechts. Wie schätzen Sie die Resilienz der demokratischen Systeme ein?

Walter: Wir sehen in der Tat aktuell einen Trend hin zu mehr autokratischen Regimen. Insbesondere um die USA mache ich mir grosse Sorgen. Die Basis der Demokratie ist, dass man den politischen Gegner als legitim anerkennt, auch wenn man inhaltlich dessen politische Ziele nicht teilt. Dies ist in den USA verloren­gegangen, was ich besorgniserregend finde. Eine Wahlniederlage zu akzeptieren, ist beispielsweise viel schwieriger, wenn der Gegner nicht mehr als legitim wahrgenommen wird. Es dürfte schwierig werden, diese tiefe Spaltung zu überwinden.

Mahlmann: Das ist ganz wichtig. Demokratie basiert auf einer Kultur des Respekts. Man respektiert die anderen als autonome Mitentscheider, aber auch als Partner, mit denen man gemeinsam Probleme lösen kann und dies so manchmal auch besser hinbekommt, als wenn man es auf eigene Faust machen würde. Was die Analyse noch bedenklicher macht, ist das Zerbrechen von bestimmten Wahrheitsmassstäben. Wenn die Fakten und die Massstäbe, die Tatsachen als Tatsachen auszeichnen, nicht mehr geteilt werden, dann ist die Lage gefährlich. Genau an diesem Punkt stehen die USA. In Europa gibt es vergleichbare Entwicklungen: Orban kann in Ungarn entkoppelt von der Realität regieren, in Polen und jetzt wohl auch in Italien geht es in eine ähnliche Richtung.

Walter: Die Frage ist: Gibt es ein Limit? Orban zeigt in Ungarn, wie man ein System so umbauen kann, dass man die Politik von der Realität ziemlich abkoppeln kann, indem man die Opposition und die Medien ausschaltet. Immerhin, in Grossbritannien ist mit Liz Truss gerade eine inkompetente Regierung gestürzt, und in den USA haben viele Election Deniers die Zwischenwahlen verloren. Das gibt mir eine gewisse Hoffnung auf ein demokratisches Korrektiv.

Mahlmann: Wir müssen vermeiden, dass wir zur Demokratie nur ein taktisches Verhältnis haben und sie nur dann gut finden, wenn uns die Ergebnisse in den Kram passen. Und wir müssen uns bewusst sein, welchen Wert die Demokratie hat und dass sie zu verteidigen wichtiger ist als die Tagespolitik. Dabei kommt es entscheidend auf uns an: Es gibt keine Demokratie ohne Menschen, die sie tragen. Das ist eine Frage, die mich umtreibt: Wie viele Leute haben wir, deren Herz mit politischer Leidenschaft für die Demokratie schlägt, sind es genug, um denen entgegenzutreten, die vielleicht etwas ganz anderes wollen?

Zum Schluss: Dreissig Jahre nach dem «Ende der Geschichte» – gibt es Gründe, optimistisch zu sein, oder eher nicht?

Walter: Die vergangenen Jahrzehnte waren eine gute Zeit für Europa mit Frieden und Wohlstand. Es ging immer nur nach oben. Jetzt dürfte es schwieriger werden. Viele Entwicklungen sind besorgniserregend. Wir leben in einer Zeit geopolitischen Wandels. Der Klimawandel wird unsere Systeme noch zusätzlich unter Druck setzen. Doch die Menschheit hat schon früher Phasen existenzieller Herausforderungen überstanden. Es ist daher besser, darüber dachzudenken, was wir tun können, um die Probleme zu lösen, als in Pessimismus zu verharren und zu sagen, die Welt gehe eh unter.

Mahlmann: Schreckliche Szenarien sind denkbarer geworden als auch schon. Das sollte uns dazu bewegen, noch entschiedener die Gegenkräfte zu stärken. Ich bin überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die es attraktiv finden, in einer Welt mit mehr Demokratie und Solidarität zu leben. Das bedeutet: keine Machtpolitik auf Kosten der anderen, sondern zu versuchen, gemeinsam etwas zu erreichen. Die weltweite Bewegung gegen den Klimawandel lebt von der Solidarität – auch gegenüber Menschen, die noch nicht einmal geboren sind, denen man aber die Chance nicht nehmen will, dereinst ein menschlich reiches Leben zu führen. Da gibt es ein grosses Potenzial. Aber es braucht politische Kräfte, die dafür werben, dass in der Solidarität unsere Zukunft liegen kann.

Dieses Interview ist zuerst im UZH Magazin 4/22 erschienen.

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