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Talk im Turm

Die verkehrte Welt der Desinformation

Im «Talk im Turm» diskutierten die Slavistin Sylvia Sasse und der Kommunikationswissenschaftler Michael Latzer darüber, wie Desinformation und Algorithmen unsere Meinungsbildung beeinflussen.
Thomas Gull
Desinformation und Propaganda werden von den Mächtigen eingesetzt, um die Menschen zu manipulieren. Diskussionsrunde des Talk im Turm mit Rita Ziegler, Michael Latzer, Sylvia Sasse und Roger Nickl (von links). (Bild Adriana Hefti, UZH Alumni)

 «Göttliche Algorithmen und Putins Desinformation», das war die Affiche des «Talk im Turm». Das von Rita Ziegler und Roger Nickl moderierte Gespräch mit der Slavistin Sylvia Sasse und dem Kommunikationswissenschaftler Michael Latzer förderte allerhand Erhellendes zutage. Dazu gehört, dass die russische Desinformation, die zurzeit in Hochblüte steht, eine lange Tradition hat. Bereits Stalin setzte sie gezielt ein, um tatsächliche und vermeintliche Gegner seines Regimes zu diskreditieren, vorzugsweise als «Faschisten». Dabei beruht die Desinformation, wie Silvia Sasse erklärte, auf einer radikalen Verkehrung ins Gegenteil. Der Gegenseite wird unterstellt, sie tue, was man selber gerade tut. So bedroht in der Lesart der russischen Propaganda die Ukraine Russland und nicht umgekehrt. Und Putin, dessen Regime mittlerweile faschistische Züge angenommen hat, behauptet, in der Ukraine gegen Faschisten zu kämpfen wie einst die Vorväter im «Grossen Vaterländischen Krieg» gegen die Nazis.

Talk im Turm als Podcast

Den Menschen den Kopf verdrehen

Desinformation dient dazu, den Menschen den Kopf zu verdrehen. Sie sollen am Schluss nicht mehr wissen, was oben und unten, was richtig und was falsch ist. Eine Strategie, die gemäss Sylvia Sasse von Mächtigen gerne eingesetzt wird, um ihre Macht zu erhalten und zu festigen.

Ein Beispiel, wie das funktioniert, ist die russische Fernsehsendung «Anti-Fake», die behauptet, Fake News zu entlarven, in Tat und Wahrheit aber die Tatsachen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, indem sie wahre Nachrichten und reale Bilder als Fakes «entlarvt». Ein Beispiel dafür ist das Massaker in der ukrainische Stadt Butscha, wo die russische Armee wahllos Zivilistinnen und Zivilisten umgebracht hat. «Anti-Fake» hat die Bilder mit Toten auf den Strassen gezeigt und behauptet, das sei alles nur Theater, diese Menschen seien gar nicht tot. «Es geht darum, das Publikum zu trainieren, anders auf die Bilder zu schauen», sagt Sylvia Sasse. «Statt die toten Menschen auf den Bildern zu sehen und darüber entsetzt zu sein, sucht man dann nach Fehlern, die beweisen, dass die Bilder inszeniert sind.» Damit wird die Perspektive verändert und das emotionale Thema versachlicht. Gleichzeitig wird das Vertrauen der Menschen in Bilder und Nachrichten grundsätzlich untergraben – und dies nicht nur in Russland, sondern auch bei uns. Die Menschen zweifeln zu lassen am Wahrheitsgehalt der medial vermittelten Realität, sei das Ziel der russischen Desinformation, so Sasse. Dabei, so betonte sie, können wir unseren hiesigen Medien durchaus vertrauen.

Eine Analyse, die Michael Latzer teilt: «Bei uns verbreiten die Medien nicht bewusst und absichtlich falsche Informationen im grossen Stil.» Gleichzeitig relativierte der Kommunikationswissenschaftler den Einfluss der Medien auf die (politische) Meinungsbildung in der Schweiz. Der mit Abstand wichtigste Faktor, wenn wir uns eine Meinung bilden, sei der persönliche Kontakt, gefolgt vom Abstimmungsbüchlein, betonte Latzer. Erst an dritter Stelle folge das Fernsehen, vor den Printmedien, Suchmaschinen und dann, am Schluss der Rangliste, den sozialen Medien.

Wir haben eine Neigung, den grössten Blödsinn zu glauben, das zeigt der Blick in unsere Kulturgeschichte.

Sylvia Sasse
Slavistin

Allerdings sind wir – oder zumindest einige von uns – durchaus empfänglich für Desinformation. So glauben gemäss Latzer etwa 20 Prozent an Verschwörungstheorien. «Wir haben durchaus eine Neigung dazu, den grössten Blödsinn zu glauben», sagte Sylvia Sasse, «das zeigt der Blick in unsere Kulturgeschichte.»

Wahres von Falschem zu unterscheiden, ist nicht einfacher geworden, seit die sozialen Medien es allen ermöglichen, Sinn und Unsinn zu verbreiten und damit potenziell ein globales Publikum zu erreichen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Algorithmen, die Programme, die im Hintergrund unser Verhalten im Netz analysieren und uns entsprechend Informationen zuspielen. «Wir bekommen vom Algorithmus immer das, wofür wir uns schon interessiert haben», so Michael Latzer. Deshalb leben wir alle in mehr oder weniger stark ausgeprägten Filterblasen und Echokammern.

Die Algorithmen ergänzen die Massenmedien, die traditionellerweise bestimmten, was wir von der Welt wissen. «Heute haben wir eine algorithmische Co-Konstruktion der Wirklichkeit durch die Algorithmen», erklärte Latzer. Die Algorithmen übernehmen von den Massenmedien zudem einen Teil der Gatekeeper-Funktion. Sie entscheiden, was relevant ist und was nicht. «Das verändert, welche Wirklichkeit wir sehen.»

Soziale Medien als fünfte Gewalt

Latzer sieht in den sozialen Medien so etwas wie die fünfte Gewalt, die die vierte Gewalt, die Massenmedien, kontrolliert. Und Sasse weist darauf hin, dass die sozialen Medien gerade in totalitären Staaten dazu dienen können, Alternativen zur allgegenwärtigen staatlichen Propaganda anzubieten: «Was wüssten wir über den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ohne die sozialen Medien?»

Für Sylvia Sasse ist eine Unterscheidung ganz wichtig: jene zwischen den demokratischen Staaten mit ihren offenen und pluralistischen Mediensystemen, wo durchaus auch falsche Informationen verbreitet werden, manchmal auch wissentlich, wie etwa vom US-Fernsehsender Fox News nach den letzten Präsidentschaftswahlen. Und totalitären Staaten wie Russland, wo die Wahrheit systematisch unterdrückt und verdreht wird.