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Wer die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg verfolgt, wundert sich immer wieder darüber, welche völlig gegensätzlichen Erzählungen da aufeinandertreffen. Auf der einen Seite die Narrative der meisten westlichen Medien, auf der anderen Seite diejenigen Russlands. Aus unserer Perspektive ist der Angriff Russlands ein ruchloser Akt der Aggression gegen einen friedlichen Nachbarn, während Russland behauptet, sich gegen den übergriffigen Westen zur Wehr setzen zu müssen, und die Ukraine «befreien» und «entnazifizieren» will.
Schwer nachvollziehbar ist für uns auch, dass offenbar viele Russinnen und Russen der Propaganda des Kreml und der staatlich gelenkten Medien aufsitzen. Die Slawistin Sylvia Sasse erforscht seit Jahren, wie Propaganda und Desinformation funktionieren, insbesondere im heutigen Russland und früher in der Sowjetunion. Die Professorin für Slavische Literaturwissenschaft an der UZH ist in der DDR aufgewachsen und hat jahrelang in den Archiven der ehemaligen Geheimdienste erforscht, wie ein repressiver Staat funktioniert und wie er seine Bürgerinnen und Bürger manipuliert. Sie sagt: «An absurde Dinge zu glauben, ist in unserer Kulturgeschichte tief verankert. Das passiert nicht nur in Diktaturen und nicht nur in Russland, sondern überall. Darauf gründen auch Religionen.» So ist es auch kein Wunder, betont Sasse, dass in Russland so viele an die Desinformation der Regierung glauben, denn sie wird auch aktiv von der Russisch-orthodoxen Kirche verbreitet.
Aus dieser Perspektive betrachtet ist einfacher nachvollziehbar, weshalb beispielsweise Millionen (oft religiöser) Amerikanerinnen und Amerikaner immer noch überzeugt sind, Donald Trump habe die letzten US-Präsidentschaftswahlen gewonnen, oder glauben, eine satanische (demokratische) Elite ermorde Kinder, wie die QAnon-Verschwörungstheorie behauptet.
Während die US-Amerikaner aus freien Stücken haarsträubenden Unsinn für bare Münze nehmen, liegen die Dinge in Russland etwas anders. Dort haben staatliche Propaganda und Desinformation eine lange Tradition. Den Begriff der Desinformation führt Sasse auf Lenin zurück, der diesen 1918 zum ersten Mal verwendete, um negative Nachrichten über die Oktoberrevolution zu diskreditieren. Heute bezeichnen Politiker wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump oder der ungarische Präsident Viktor Orbán Nachrichten, die ihnen nicht in den Kram passen, als Fake News. Wladimir Putin brandmarkt Kritik als «antirussisch».
Der Clou ist, dass genau jene, die Kritik als politisch motivierte Desinformation oder Fake News abtun, gezielt lügen, um die politischen Gegner zu diffamieren. «Die Sowjetunion hatte schon früh ein Büro für Desinformation, das Falschinformationen fabrizierte», erzählt Sasse. Stalin hat nach der Machtübernahme damit begonnen, seine politischen Gegner aus Fotografien herausretuschieren zu lassen. Umgekehrt liess er sich auf Gemälden bei Ereignissen, an denen er nicht teilgenommen hatte, in die Geschichte hineinmalen. Auch die Moskauer Schauprozesse der 1930er-Jahre haben alternative Realitäten geschaffen, damit Stalin seine politischen Gegner als Drahtzieher einer angeblichen Verschwörung gegen ihn denunzieren und ausschalten konnte.
Die Geschichte der alternativen Realitäten made in Russland reicht noch weiter zurück, bis zu den sprichwörtlichen Potemkinschen Dörfern etwa, mit denen einst Fürst Grigori Potjomkin (1739–1791) seine Geliebte Katharina die Grosse beeindrucken wollte, indem er im frisch eroberten Neurussland Kulissen von Dörfern errichten liess. Heute wird vermutet, dass es sich bei dieser Legende selbst um Fake News handelt, die Gegner von Potjomkin verbreiteten, um ihn in Verruf zu bringen. In ihrem Buch «Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik» erzählt Sylvia Sasse, wie sich Ivan der Schreckliche (1530–1584) einst als Opfer der Bojaren (russische Adelige) darstellte, um seine Macht zu legitimieren und die Opposition des Adels mit Gewalt und Terror zu brechen.
Dem Gegner konsequent das zu unterstellen, was man selbst tut, ist ein typisches Mittel, um Herrschaft auszuüben und zu legitimieren. Sasse sagt: «Putin behauptet, die Ukraine sei ein faschistisches Land, die EU eine Diktatur, die europäische Presse eine Lügenpresse, in Europa werde Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt, westliche Medien würden zensiert, der Krieg selbst sei nur inszeniert.» Die Menschen in Russland leben in dieser totalen Verkehrung, wo Russland umgekehrt als demokratisch und antifaschistisch erscheint. Indem sie die Wahrheit systematisch verdrehen, stiften die Mächtigen kognitives und emotionales Chaos, das die Menschen «mürbe macht und ihren Widerstand bricht». Das ist die Kernthese von Sylvia Sasses «Verkehrung ins Gegenteil».
Wie Sasse am Beispiel der russischen Fernsehsendung «Anti-Fake» zeigt, muss sich die zerstörerische Desinformation nicht einmal besonders subtiler Mittel bedienen. «Anti-Fake» ist eine Fernsehshow, die für sich in Anspruch nimmt, die Propaganda des Westens und der Ukraine zu entlarven. In der Sendung werden dann reale Aufnahmen, etwa solche aus Butscha mit toten Menschen auf den Strassen, gezeigt und umgedeutet, indem sie als inszeniertes «Theater» und «monströser Schwindel» bezeichnet werden. «Damit soll die Realität als banale Fälschung entlarvt werden», erklärt Sasse, «sie wird zur Fiktion erklärt.» Das Ziel dieser Desinformation sei eine Gefühlsumkehr. Das Mitgefühl mit den ermordeten Menschen, das Zweifel am Krieg schüren könnte, wird ersetzt durch die Wut auf den Westen. Dieser, so wird behauptet, inszeniere solche Bilder, um die Menschen gegen Russland aufzuwiegeln. «Damit werden die Menschen emotional konditioniert», sagt Sasse, «das arbeitet der Repression zu.» Denn wenn der Krieg nur ein inszeniertes Theater des Westens ist, weshalb dagegen auf die Barrikaden gehen?
Der Trick der «Anti-Fake»-Sendung ist, eine nüchterne und «wissenschaftliche» Analyse der gezeigten Bilder vorzutäuschen. Sasse nennt das «Fake-Forensik». Die Fake-Forensiker von «Anti-Fake» oder Talkmaster, die gegen die «Faschisten» in der Ukraine hetzen, gehören zu den intellektuellen Handlangern der Mächtigen, die ihnen zudienen, indem sie die Realität klittern. «In Russland gibt es eine etablierte Schule des Verbergens der Wahrheit», sagt Sasse und verweist darauf, dass lange Zeit niemand über den Gulag berichtete (bis Alexander Solschenizyn es dann doch tat) oder dass der Sozialistische Realismus die Realität etwa des stalinistischen Terrors völlig ausblendete, um stattdessen blühende sozialistische Landschaften zu beschreiben, die es so nicht gab.
Man fragt sich allerdings: Glauben die Menschen wirklich, was ihnen da aufgetischt wird? Und glaubt Putin seine Mär von der faschistischen Ukraine, die befreit werden muss? Vom russischen Präsidenten wird oft gesagt, er lebe in einer Realität, die er sich selbst zurechtgezimmert hat. Dieses Argument habe etwas für sich, sagt Jeronim Perovic´, Direktor des Center for Eastern European Studies der UZH: «Putin träumt von einem Grossrussland, das über Jahrhunderte gewissermassen natürlich zusammengewachsen ist und das dann mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 auseinandergerissen wurde.» Hinter dem Untergang des Sowjetimperiums vermute der russische Präsident das Spiel böser Mächte. Dabei blende er völlig aus, so Historiker Perovic´, dass die Völker, die meist gegen ihren Willen Russland und später der Sowjetunion einverleibt wurden, ihren eigenen Weg gehen wollten, sobald sich dazu die Gelegenheit bot. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Besonders schmerzhaft für Putin als russischen Nationalisten ist, dass sich mit der Ukraine ein Staat aus der russischen Einflusssphäre zu verabschieden versucht, der für ihn zusammen mit Weissrussland zum Kern der sogenannten «russischen Welt» gehört. Was die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen, interessiert Putin dabei in keiner Weise. Aus seiner Perspektive benutzt der Westen die Ukraine vielmehr, um Russland zu schwächen.
Die Antwort auf die Frage ist deshalb: Putins Behauptung, die Ukraine müsse von antirussischen «Faschisten» befreit werden, ist Teil des Narrativs, das er sich selbst zurechtgelegt hat. Dieses setzt er, so Sasse, «strategisch ein, um seine Macht auszuweiten». Gleichzeitig hat der Verweis auf den «Grossen Vaterländischen Krieg», die Abwehrschlacht gegen Nazideutschland, eine grosse Resonanz in der Bevölkerung: «Putin hält die Erinnerung an den Krieg wach», sagt Perovic´, «um an das Verbindende zu appellieren. Jene, die aus den geschlossenen Reihen ausbrechen, sind die Feinde, die neuen Nazis, die Russland zerstören wollen.»
Und die Menschen, glauben sie der Propaganda? Sylvia Sasse sagt dazu: «Es ist leider einfacher, der Propaganda zu glauben, als zu widersprechen. Nicht zu widersprechen, erlaubt, das eigene Leben weiterzuleben. Nur wenige haben den Mut, sich öffentlich gegen das System zu stellen und das eigene Leben für die Wahrheit zu opfern.» Wer aber der Desinformation nicht glaubt, lernt schnell, mit dem Widerspruch von Realität und Ideologie umzugehen. «Diesen Widerspruch nannte man schon in der Sowjetunion frei nach George Orwell «Doppeldenk», sagt Sasse. Was die Menschen tatsächlich denken, behalten sie besser für sich, deshalb ist es auch schwierig, Umfragen in repressiven Systemen zu trauen.
Jeronim Perovic´ glaubt nicht, dass eine Mehrheit in Russland für den Krieg ist. Doch, sagt er: «Die Mehrheit will keine Niederlage. Das kann die russische Gesellschaft nicht akzeptieren.» Und die Menschen haben zwanzig Jahre im System Putin gelebt. Viele haben es mitgestaltet, in der Politik, im Militär, als Beamte, und dabei nicht schlecht gelebt. «Der Wohlstand vieler ist in dieser Zeit gestiegen», sagt Perovic´, «das ist auch eine Realität.» So sitzt man nolens volens im selben Boot und steuert gemeinsam auf den Abgrund zu.
Eine fragwürdige Rolle spielt dabei die Russisch-orthodoxe Kirche – womit sich der Kreis zu Religion und Glauben schliesst – denn diese unterstützt und rechtfertigt den russischen Angriffskrieg. In Russland gehen Staatsmacht und Orthodoxe Kirche seit jeher Hand in Hand, sagt Perovic´. Früher war der Zar der Schutzherr der Orthodoxie, heute ist es Putin. «Anders als etwas in Polen oder Kroatien, wo die Katholische Kirche in Opposition zu den kommunistischen Regimen stand, hat sich die Russisch-orthodoxe Kirche stets mit den Mächtigen arrangiert.»
Unlängst wurde bekannt, dass der Patriarch der Russisch-orthodoxen Kirche Kyrill in den 1970er-Jahren in der Schweiz für den früheren sowjetischen Auslandsgeheimdienst KGB gearbeitet haben soll. Heute unterstützt und verstärkt er die Kreml-Propaganda, indem er den Soldaten die Sünden erlässt und behauptet, Russland habe noch nie ein anderes Land angegriffen. Der Glaube wird politisch instrumentalisiert, wie so oft in der Geschichte. Die (Leicht-)Gläubigen werden eingesponnen ins Lügengeflecht der staatlichen Desinformation.
Wird dieses je zerrissen? Fliegt die alternative Realität des Putin-Regimes je auf wie einst der rassistische und nationalistische Grössenwahn der Nazis oder die schöngefärbte marode Welt des Sowjetkommunismus? Dazu bräuchte es einen radikalen Machtwechsel, sagt Sylvia Sasse, der nicht nur Putin wegfegt, sondern auch den mächtigen Geheimdienst, der den Staat wie eine Mafia im Griff hat. Jeronim Perovic´ hält das im Moment für unwahrscheinlich, weil in Russland noch keine Bomben fallen und sich die Menschen vor einer Revolution fürchten. «Beim Umbruch in den 1990er-Jahren gab es das westliche liberale Model als Alternative. Doch das Demokratie-Experiment ging aus der Sicht vieler Menschen in Russland schief.» Für die Russinnen und Russen bedeutet dies: Woran sollen sie glauben, wenn Putin stürzt?
Dieser Artikel ist zuerst im UZH Magazin 1/23 erschienen.