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MOASIS-Studie

Herr Deetlefs singt in «Cavalleria rusticana»

Das Leben auch im Alter aktiv zu gestalten, hält gesund. Die MOASIS-Studie der UZH erforscht, wie sich ältere Menschen verhalten und wie sich das auf ihre Fitness und ihr Wohlbefinden auswirkt. Da zeigt sich: Wer rastet, der rostet.
Thomas Gull
Gemeinsam unterwegs auf einer Bergwanderung: Bewegung und soziale Kontakte halten körperlich und geistig fit. (Foto: amriphoto/iStock)

Hannes Deetlefs ist ein aktiver, man darf wohl auch sagen, ein umtriebiger Rentner. Er schreibt Bücher, bietet unter «Check my speech, please» englische Übersetzungen und Korrekturen an, pflegt seine Modelleisenbahn im Garten, die er selbst gebaut hat, singt in Chören, malt in Öl, kocht gerne und gern Neues, feierte seinen fünfzigsten Hochzeitstag und ist «immer noch verliebt». Kürzlich hat der 76-Jährige das «Vorturnen» beim Kantonsarzt überstanden und darf weiterhin Busse, Cars und Lastwagen fahren – und grosse Motorräder, wie er betont. Die Passion für schweres Gefährt ist ein Hobby. Von Beruf war Hannes Deetlefs Lehrer für Sprachen und Mathematik.

Deetlefs ist einer von 150 Teilnehmer:innen der MOASIS-Studie des Universitären Forschungsschwerpunkts «Dynamik Gesunden Alterns». MOASIS steht für Mobilität, Aktivität und soziale Interaktion (Mobility, Activity, and Social Interactions Study). Die Proband:innen sind zwischen 65 und 90 Jahre alt, ihr Alltagsverhalten wurde während 30 Tagen aufgezeichnet. Ziel der interdisziplinären Langzeitstudie, die in diesem Jahr fortgesetzt wird, ist, zu verstehen, was gesunde ältere Menschen jeden Tag tun und wie sich dies auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden auswirkt.

Die Studie ist einzigartig, weil sie gleichzeitig verschiedene Dimensionen des Verhaltens im Alltag misst. Möglich ist dies dank eines aufwändigen Studiendesigns und eines kleinen Geräts, das sehr viel kann, des uTrail. Der uTrail ist ein portabler Sensor, der beispielsweise am Gürtel befestigt werden kann. Mit einem GPS-Tracker verfolgt er die Bewegung im Raum, er misst die körperliche Aktivität und fängt mit einem Mikrofon Schnipsel von Gesprächen ein.

Neben den Daten, die uTrail liefert, haben die Proband:innen mehrmals täglich Fragen zu ihrem Verhalten und ihrem Wohlbefinden beantwortet, die ihnen über das Smartphone zugespielt wurden, und sie mussten schnell ein paar Aufgaben lösen, die Auskunft darüber geben, wie gut ihr Arbeitsgedächtnis funktioniert. Das Arbeitsgedächtnis ist ein guter Indikator für die kognitive Fitness. Seine Leistungsfähigkeit wird beeinflusst von dem, was wir tagtäglich tun. Deshalb kann damit auch gemessen werden, wie sich alltägliche Tätigkeiten, wie etwa ein Gespräch führen, unter anderem auf die kognitive Gesundheit auswirken.

Klaviervirtuose statt Sofakartoffel

«Mit diesen vielfältigen Informationen lässt sich ein relativ genaues Bild des Alltags der Teilnehmer:innen zeichnen», sagt die Psychologin Christina Röcke, die die Studie gemeinsam mit dem Geografen Robert Weibel leitet. Wichtig sei dabei, die gesammelten Informationen abzugleichen, abzuchecken und richtig einzuordnen, auch in den jeweiligen situativen Kontext. Das ist dank der Vielfalt der Informationen möglich. Neben den GPS- und Bewegungsdaten sind das die Antworten auf kurze Fragen, die den Proband:innen im Laufe des Tages gestellt werden, und die kurzen Audioaufnahmen, die auch mehrmals pro Tag gemacht werden.

Hannes Deetlefs liefert dazu ein Beispiel: «Ich halte mich relativ oft im Wohnzimmer auf. Aufgrund dieser Information nahm man zunächst an, ich würde dort fernsehen.» Doch weit gefehlt: «Ich sehe nicht fern, sondern spiele intensiv Klavier.» Das wird von den Wissenschaftler:innen ganz anders bewertet als fernsehen, weil es aktiv und kognitiv viel herausfordernder ist. Somit ergibt sich dann auch ein anderes Bild von Herrn Deetlefs und seinem Alltag – Klaviervirtuose statt Sofakartoffel. Zu wissen, was die Menschen den ganzen Tag lang tun, ist der erste Schritt der MOASIS-Forschung. Diese Informationen sind wertvoll und können in unterschiedlichster Weise ausgewertet werden bis hin zu linguistischen Analysen der Gesprächsfragmente.

Was Christina Röcke und ihre Kolleg:innen letztendlich interessiert, ist jedoch, ob das alltägliche Verhalten gesund und glücklich macht oder eben nicht. Erste Ergebnisse zeigen bereits interessante Zusammenhänge. Grundsätzlich gilt: Je aktiver wir im Alter sind, umso besser. Aktiv sein ist so etwas wie die mediterrane Küche des Verhaltens – gesund und bekömmlich. Allerdings, betont Christina Röcke, ist Qualität wichtiger als Quantität: «Empfehlenswert ist, möglichst vielfältig aktiv zu sein. Wer sich ständig neuen Herausforderungen stellt, trainiert seine kognitiven und körperlichen Fähigkeiten.»

Wer sich ständig neuen Herausforderungen stellt, trainiert seine kognitiven und körperlichen Fähigkeiten.»

Christina Röcke, Psychologin

Unterwegs sein fördert das Wohlbefinden

Eine wichtige Rolle für die geistige Fitness spielt das Sozialleben. Ein gutes Gespräch fordert intellektuell und verbessert beziehungsweise erhält unsere Denkfähigkeit. Nicht nur geistig, sondern auch geografisch mobil zu sein, tut uns gut. «Unsere Daten zeigen: Je vielfältiger die Orte sind, die sie besucht haben, umso zufriedener sind unsere Proband:innen», so Röcke. Zug zu fahren fördert deshalb das Wohlbefinden, wahrscheinlich, weil so leichter unbekannte und verschiedene Orte besucht werden können. Ein Generalabonnement der SBB könnte somit eine lohnende Investition in die eigene Lebenszufriedenheit sein – plötzlich wird klar, welche Bewandtnis es mit dem verklärten Gesichtsausdruck der Rentner:innen hat, die gerne frühmorgens oder abends vorzugsweise in Wanderausrüstung im Zug unterwegs sind.

Abwechslung macht also das Leben süss und hält gesund. Wie sieht denn der ideale Tag einer Pensionärin, eines Pensionärs aus, Christina Röcke? «Sie macht etwas Sportliches, trifft eine Freundin und werkelt im Garten. Er kümmert sich um die Enkel, geht mit dem Hund spazieren und löst ein Kreuzworträtsel.

Wichtig ist, Dinge zu tun, die einem am Herzen liegen, und für Abwechslung zu sorgen.» Das hat auch Jean-Pierre Zosso gelernt, ein anderer Teilnehmer der MOASIS-Studie: «Ich bewege mich täglich, mache aber nicht mehr stur immer nur das Gleiche wie früher.» Sein Ziel sei, seine Hirnzellen und seinen Körper jeden Tag auf möglichst unterschiedliche Weise zu aktivieren, sagt der 88-Jährige. Dank der Studie habe er auch neue Menschen kennengelernt und Kontakte geknüpft, erzählt Zosso. Doch wozu das Ganze – weshalb sollten wir möglichst aktiv sein auch im Pensionsalter, statt das wohlverdiente Dolcefarniente zu geniessen und uns auf den Lorbeeren auszuruhen? «Damit wir möglichst lange ein möglichst unabhängiges Leben führen können», lautet die Antwort der Altersforschung. Denn alt zu sein, bedeutet heute nicht mehr automatisch, zum alten Eisen zu gehören, gerade weil wir immer älter werden und immer länger gesund sind und Dinge tun können, die früher für ältere Menschen nicht mehr möglich waren. Die Weltgesundheitsorganisation WHO betont in ihrem neuen Modell des gesunden Alterns (2020), ältere Menschen sollten so lange wie möglich funktional gesund bleiben, das heisst mobil sein, Beziehungen unterhalten und zur Gesellschaft beitragen können, «immer mit dem Fokus darauf, was ihnen in all diesen Bereichen wichtig ist und ihnen Freude bereitet», sagt Christina Röcke.

All das trägt zur Lebensqualität bei. Voraussetzung dafür ist, dass wir über genügend körperliche und kognitive Reserven verfügen, um im Alter ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. «Diese Reserven werden im Lauf des Lebens geäufnet und im Alter verbraucht», erklärt Christina Röcke. Genauso wie die finanziellen Reserven, die wir anlegen. Körperliche wie geistige Aktivitäten helfen, die Reserven aufzubauen und möglichst lange zu erhalten. «Das ist wie ein Schwamm, der sich vollsaugt und dann ausgepresst wird», so Röcke. Im Alter gebe es in der Regel Verluste. Doch das Altern verläuft sehr unterschiedlich. Zur Kunst des Alterns gehört, solche Verluste zu akzeptieren und nach Alternativen zu suchen, die uns auch Freude bereiten, wenn wir etwas nicht mehr können. Beispielsweise ausgedehnte Spaziergänge zu machen, wenn Joggen zu anstrengend oder zu schmerzhaft wird, oder sich von einem Fahrdienst an die wöchentliche Jassrunde chauffieren zu lassen, statt mit dem eigenen Auto hinzufahren.

Je grösser die Reserven sind, umso besser können Rückschläge weggesteckt werden und umso länger gelingt es, sich über der «kritischen Schwelle» zu halten, die es uns erlaubt, selbständig zu leben. Wenn unsere Fähigkeiten unter diese Schwelle fallen, sind wir auf Hilfe angewiesen.

Bergtour oder Spaziergang

Wer möglichst lange ein gutes und selbständiges Leben führen will, darf es sich also nicht zu bequem machen. Allerdings, betont Röcke, ist es sehr individuell, was wir uns unter einem guten Leben vorstellen und welche Art von Aktivität uns guttut, auch über verschiedene Zeiträume bei derselben Person. So brauchen die einen weniger soziale Kontakte als andere. Und die einen fahren nach der mehrstündigen Bergtour müde, aber erfüllt im Zug nach Hause, während andere der Spaziergang mit dem Hund glücklich macht. Gleichzeitig haben viele Menschen ihren ganz individuellen Rhythmus etwa beim Bedürfnis nach sozialen Momenten und solchen für sich allein.

Solche Variationen sind nicht nur zwischen Menschen, sondern auch bei den einzelnen Personen zu beobachten. «Deshalb ist es aus Forschungssicht so wichtig, Daten alltagsnah und über längere Zeiträume zu erfassen. Und individuell ist es wichtig, zu wissen, was für uns im jeweiligen Lebens- und Alltagskontext passt, gerade auch, wenn wir unser Verhalten ändern wollen», sagt Röcke, «es muss für uns Sinn machen und sich gut anfühlen. Sonst ist das nicht nachhaltig.»

Die MOASIS-Studie hilft dabei, solche Zusammenhänge zu verstehen, gerade weil sie so nah am Alltag der Menschen ist. Dieses Jahr geht sie in die zweite Runde. Das bedeutet: Die Teilnehmenden der ersten Studie, die 2018 durchgeführt wurde, werden noch einmal befragt. Diese Gruppe soll ergänzt werden einerseits durch weitere ältere Menschen, andererseits durch eine Vergleichsgruppe mit jüngeren Erwachsenen (Informationen siehe Box unten). Das Ziel der neuen Studie ist es, zu sehen, wie sich die Alltagsaktivitäten langfristig auf die Gesundheit auswirken. «So fragen wir uns beispielsweise», sagt Christina Röcke, «ob sich vielfältige Aktivitäten und besuchte Orte nicht nur günstig auf das kurzfristige Arbeitsgedächtnis auswirken, sondern auch ganz allgemein und im weiteren Verlauf des Alterns unser Gedächtnis schützen und erhalten.» Dank der MOASIS-Forschung werden wir immer besser wissen, was gut für uns ist und wie wir gesünder alt werden können. In der Zwischenzeit lernt Hannes Deetlefs Italienisch. Er singt in der Oper «Cavallaria rusticana» von Pietro Mascagni, die im kommenden Jahr vom Musiktheater Wil aufgeführt wird.

Dieser Text stammt aus dem Dossier «Gesund älter werden» aus dem aktuellen UZH Magazin 3/2023

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