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Was wir glauben

«Digitale Dreifaltigkeit»

Die Digitalisierung übernimmt gesellschaftliche Funktionen der Religion. Der Glaube an göttliche Entscheidungen wird durch den Glauben an die algorithmische Selektion ersetzt, sagt Kommunikationswissenschaftler Michael Latzer.
Stefan Stöcklin
Michelangelos Hände, digitalisiert: Die Algorithmisierung und Digitalisierung haben zum Ziel, menschliche Grenzen zu überwinden. (Bild: istock/LindaMarieB)

Herr Latzer, Sie haben den Begriff der «digitalen Dreifaltigkeit» geprägt. Was meinen Sie mit dieser doch überraschenden Verbindung von Religion und Digitalisierung?

Michael Latzer: Ich versuche einen Blick hinter die technische Fassade der Digitalisierung zu werfen. Meine Grundüberlegung ist, dass dahinter ein ganzes Bündel von Transformationen steckt, die ich als Datafizierung, Algorithmisierung und Plattformisierung fasse. Dieses Grundsystem von drei eng verbundenen Elementen bezeichne ich als digitale Dreifaltigkeit.

Können Sie das erklären?

Die immer weiter gehende Erhebung von Daten vieler Lebensbereiche und ihre Quantifizierung – die Datafizierung – kennen wir alle. Mit dem zweiten Teil der Trinität, der Algorithmisierung von Auswahlprozessen, wird versucht, aus diesen Daten soziales, ökonomisches und politisches Kapital zu schlagen. Prominentestes Beispiel ist die künstliche Intelligenz. Drittens kommt die dafür optimale Organisationsform hinzu, die Plattformisierung von Märkten, das heisst das vermehrte Schaffen von digitalen Plattformen – denken Sie an Uber, Google oder Airbnb und Tinder. Wichtig ist mir das ko-evolutionäre Zusammenspiel der drei Teile, sie müssen in Kombination gesehen werden, nicht als Einzelteile. Erst aus ihrem Zusammenwirken resultiert das umfassende gesellschaftliche Umbruchspotenzial der Digitalisierung.

Der Begriff «digitale Dreifaltigkeit» ist also nicht polemisch gemeint?

Ganz und gar nicht. Es geht mir in erster Linie um einen strukturellen Vergleich. Gottvater, Gottsohn und der Heilige Geist ergeben zusammen Gott. Auch die Datafizierung, Algorithmisierung und Plattformisierung müssen gemeinsam für das Verständnis der Digitalisierung betrachtet werden. Darauf spiele ich mit dem Begriff an.

Dass Sie damit religiöse Assoziationen hervorrufen, ist wohl Absicht. Sie konstatieren ja auch eine Datengläubigkeit der Gesellschaft.

Ja, der blinde Glaube spielt in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Das System der Digitalisierung beruht auf dem Glauben, dass wir eine berechenbare Welt haben und dass man auf Basis grosser Datenmengen ganz neue Erkenntnisse gewinnen kann. Zudem wird die Digitalisierung durch den starken Glauben an eine wissenschaftlich-technisch kontrollierbare Evolution der Menschheit vorangetrieben. Da spielt der Gedanke mit, dass wir mit der Technik unsere bisherigen menschlichen Grenzen überschreiten können.

Diese Ideen sind nicht neu, sie finden sich auch im Transhumanismus. Digitalisierung soll beispielsweise unsere Leistungsfähigkeit rundum verbessern, Alterungsprozesse überwinden. Der Mensch wird immer mehr als ein gut steuerbarer Algorithmus verstanden.

M Latzer

Der Geist der Aufklärung hat digitalen Gegenwind. Rational begründete Fakten spielen nicht immer eine starke Rolle, sondern oft der blinde Glaube an digitale Lösungen.

Michael Latzer
Kommunikationswissenschaftler

Erleben wir mit der Digitalisierung eine neue Qualität der Technikentwicklung?

Ja, es passieren Schritte, die eine neue Qualität aufweisen. Dies nährt den Glauben oder besser gesagt den Mythos, dass die Technik dem Menschen demnächst umfassend überlegen sein kann. Die Bezeichnung künstliche Intelligenz bezieht sich ja nicht auf eine bestimmte Technik, sondern zeigt vor allem die Erwartungshaltung.

Kann uns künstliche Intelligenz ebenbürtig sein oder gar übertreffen?

Soweit ich die Forschung überblicke, ist eine so genannt starke künstliche Intelligenz, eine verstehende Technik, derzeit gar nicht absehbar. Sie kann deswegen aber nicht gleich prinzipiell ausgeschlossen werden.

Sie haben von der Steuerbarkeit der menschlichen Evolution durch die Digitalisierung gesprochen, was meinen Sie damit?

Alle grossen Internetfirmen beteiligen sich an Entwicklungen, die das Ziel haben, menschliche Grenzen zu überwinden, sei es Langlebigkeit oder Sinneserweiterung mittels Cyborgisierung. Dabei wird ganz bewusst auf göttliche Eigenschaften wie Allgegenwart, Allmacht und ewiges Leben angespielt. Ich nenne nur das Beispiel «Neuralink» von Elon Musk. Man könnte von religionsartigen Propheten sprechen, die vorgeben, zu wissen, wohin die Reise geht. So manifestiert sich der starke Glaube an die Steuerbarkeit der Evolution. Eine Vision, die umstritten ist und die ich so nicht teilen würde.

Sie vergleichen die Visionen der Internet-Unternehmer mit religionsähnlichen Ideen. Wie äussert sich das auf der Seite der Nutzerinnen und Nutzer? Sind wir Datengläubige?

Die Digitalisierung übernimmt in der Tat traditionelle gesellschaftliche Funktionen von Religionen. Auch wenn die Leute ihren routinisierten täglichen Konsum von Digitaldiensten selbst nicht so wahrnehmen: Ich denke, man kann von einer impliziten digitalen Alltagsreli-
gion sprechen. Spiritualität und Transzendenz haben nach wie vor eine zentrale Bedeutung in der Gesellschaft und suchen sich in Zeiten von schrumpfenden traditionellen Religionsgemeinschaften neue Bahnen.

Wo sehen Sie Parallelen zwischen Religion und Digitalisierung?

Funktional betrachtet definiert sich Religion etwa durch Transzendenzerfahrung, Komplexitätsreduktion, Sinnstiftung oder die Erklärung des Unerklärbaren. Auch der Digitalkonsum im Sinne der digitalen Dreifaltigkeit erfüllt Teile dieser gesellschaftlichen Funktionen.

Inwiefern reduziert Digitalisierung die Komplexität?

Algorithmische Selektionen helfen uns, nicht an der wachsenden Flut von Handlungsoptionen im täglichen Leben zu verzweifeln, indem sie etwa filtern, empfehlen oder vollautomatisch entscheiden. In traditionellen Religionen übernimmt dies die Gottgläubigkeit, die auch das Handeln vorgibt und oft nur eine Erklärung zulässt. Der Glaube an die Richtigkeit göttlicher Entscheidungen und wie diese verarbeitet werden, wird durch den Glauben an die Richtigkeit algorithmischer Entscheidungen ersetzt oder ergänzt. Beides reduziert so die Komplexität der Alltagsentscheidungen.

Wenn die Digitalisierung religionsähnliche Funktionen erfüllt, wird dann die Gesellschaft «gläubiger»?

Ja – denn das für das Funktionieren unserer Gesellschaft so zentrale Vertrauen resultiert aus Wissen und Nichtwissen. Und dieses Nichtwissen ist blinder Glaube. Durch die Algorithmisierung steigt dieser Anteil des Glaubens stark an – notgedrungen, denn die algorithmischen Entscheidungssysteme, vor allem der künstlichen Intelligenz, sind für die Nutzerinnen und Nutzer, aber auch selbst für die Anbieter nicht mehr voll durchschaubar.

Wenn ich den Gedanken weiterführe, dann haben wir seit der Aufklärung eigentlich gedacht, dass wir uns immer stärker weg vom blinden Glauben in Richtung Rationalitätsgewinn und Säkularisierung entwickeln. Doch was jetzt passiert, konterkariert diese Idee. Der Geist der Aufklärung hat digitalen Gegenwind. Rational begründete Fakten spielen nicht immer eine starke Rolle, sondern oft der blinde Glaube an digitale Lösungen, um eben Vertrauen in das System zu gewinnen. Auch darum spreche ich von einer religionsartigen Digitalisierung.

Mit der Digitalisierung steigt der Glaube an technische Systeme?

Ja, der Anteil des Glaubens verstärkt sich. Spiritualität und Glaube lassen sich auch in der Nutzung digitaler Dienste wie soziale Medien nachweisen. Empirische Forschungsarbeiten zeigen, wie sich Leute explizit als «durch Algorithmen gesegnet» bezeichnen, etwa bereits dann, wenn der Sitz im Flugzeug neben ihnen frei bleibt. Gezeigt wird auch, dass dem algorithmisch ausgewählten Erscheinen von Informationen auf sozialen Medien ein höherer Sinn beigemessen wird. Auch diese Formen von Transzendenzerfahrungen nehmen mit der Durchdringung unseres Alltags durch digitale Netzwerke zu.

Mit der Digitalisierung wird die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion schwieriger, man denke an Systeme wie ChatGPT. Ist das gefährlich, Stichwort Desinformation?

Die erschwerte Unterscheidbarkeit zwischen Fakten und Fiktion ist ein Spezifikum der aktuellen Digitalisierung. Damit wachsen die Möglichkeiten der Desinformation, aber das halte ich nicht für unlösbar gefährlich. Desinformation hat es immer schon gegeben und wir werden auch lernen, mit diesen neuen Möglichkeiten umzugehen. So werden auch neue Tools kommen, die bei deren Entlarvung helfen. Das ist ein Wettlauf Technik gegen Technik. Für schwerwiegender halte ich die generelle Veränderung in der Wahrnehmung unserer Realität – ich spreche von einer algorithmischen Ko-Konstruktion von Wirklichkeit, die nicht mehr rein medial definiert ist durch Gatekeeper der vierten Gewalt, also Verlage und Journalistinnen und Journalisten, sondern zusätzlich auch durch stärker kommerziell getriebene Anbieter und deren algorithmische Entscheidungssysteme.
 
Die Digitalisierung verändert letztlich unsere Wahrnehmung der Umwelt?

Ja, algorithmische Selektionen in den verschiedensten Digitaldiensten prägen zunehmend unser Alltagsverhalten, basierend auf meist völlig intransparenten Kriterien. Sie beeinflussen, wie wir die Welt sehen, welche Produkte wir konsumieren, welchen Job wir erhalten, welchen Partnerinnen und Partner wir wählen oder auch wie Urteile gefällt werden. Es bleibt einem oft nichts anderes übrig, als den Systemen blind zu vertrauen und daran zu glauben, dass die Entscheidungen gut sind. Ich finde, es hat etwas Orakelhaftes.

Wie kommen Sie auf Orakel?

Auch für die Bedeutung des Orakels als transzendente Weisheit ist nicht entscheidend, ob dessen Aussagen wahr sind oder nicht, sondern ob blind daran geglaubt wird. Am Schluss zählt das Vertrauen.

Dieser Text stammt aus dem Dossier «Was wir glauben» des UZH Magazins 1/23