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Portrait Livia Leu

Die Heimat vertreten

Aufgewachsen als Hotelierstochter in den Bündner Bergen, ist UZH-Alumna Livia Leu heute die ranghöchste Diplomatin der Schweiz. Was es bedeutet, ein Leben im Ausland und im Dienst der Heimat zu führen, hat die Staatssekretärin und EU-Chefunterhändlerin bei einem Besuch in Bern erzählt.
Alice Werner
Livia Leu im Bundeshaus
New York, Kairo, Teheran, Paris, Berlin - Livia Leu vertrat die Interessen der Schweiz rund um die Welt. Ihre Karriere führte sie jedoch auch immer wieder zurück nach Bern. (Foto: Stefan Walter)

Zum Büro der Staatssekretärin im Bundeshaus West geht es auf weichen Teppichen in den ersten Stock hinauf. Vor historisch bedeutendem Ambiente öffnet sich ein repräsentativer Raum mit hohen Decken und sparsamer Möblierung: weisse USM-Haller-Sideboards, ein runder Besprechungstisch, an der Wand eine Corbusier-Lithografie und eine grossformatige politische Weltkarte. Neben dem Schreibtisch die obligate Schweizer Flagge. Als Livia Leu das Büro 2021 als neue Chefin des Staatssekretariats des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) übernahm, sorgte sie erstmal für Platz und Licht. Die vorgefundenen schwarzen Büchergestelle mussten als Erstes weichen.

So luftig-leicht, wie sich die aktuell wohl mächtigste Frau in der Schweizer Bundesverwaltung in ihrer Berner Schaltzentrale eingerichtet hat, so gewichtig und heikel sind die Themen, die über ihren Tisch gehen. Als Staatssekretärin und EU-Chefunterhändlerin wird sie in doppelter Rolle und auf breiter Front gefordert. Sie ist für die Umsetzung und Weiterentwicklung der vom Bundesrat festgelegten aussenpolitischen Strategie verantwortlich und parallel dazu für die bilateralen Beziehungen mit der Europäischen Union. Nach Beendigung der Verhandlungen über den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommen 2021 führt sie seit März 2022 auf Basis eines neuen Paketvorschlags wichtige Sondierungsgespräche mit der EU, und das offensichtlich mit Resultaten. Unter ihrer Führung scheint sich der gordische Knoten mit der Europäischen Union langsam zu lockern – damit hat sie wohl mehr erreicht als ihre Vorgänger beim Europadossier.

Neben den Sondierungen mit der EU fordert vor allem der Krieg gegen die Ukraine Leus volle Aufmerksamkeit. Seit Februar 2022 koordiniert das Staatssekretariat unter ihrer Verantwortung politische Positionierungen sowie Massnahmen zur Unterstützung der Ukraine. Und als wäre das Mass für Krise und Leid nicht schon längst voll, kamen in den vergangenen drei Jahren drei Botschaftsevakuierungen hinzu: neben Kiew auch Kabul und Khartum. Ein «Rekord», der Livia Leu besorgt stimmt: «Die Welt ist schwieriger geworden.» 

Auf dem Weg nach Berlin

Die ranghöchste Diplomatin der Schweiz – dunkelblaue Jacke, lange Perlenkette, akkurater blonder Pagenkopf, taubenblaue Brille – begegnet einem freundlich-routiniert. Die 62-jährige UZH-Alumna ist trotz überfüllter Agenda bereit, Auskunft über ihren Lebensweg zu geben. Der Zeitpunkt ist passend, steht sie doch gerade vor einem beruflichen Wechsel. Auf eigenen Wunsch tritt sie als Staatssekretärin und EU-Chefunterhändlerin zurück. «Die Gespräche mit der EU sind neu aufgegleist. Mein Nachfolger wird diese im Oktober weiterführen. Ausserdem hat der Bundesrat Ende Juni Eckwerte für ein Verhandlungsmandat als Resultat der Sondierungen verabschiedet», sagt Leu. Anfang November geht sie als Botschafterin nach Berlin. In der deutschen Hauptstadt wird sie zuständig sein für die Pflege der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zum grossen Nachbarland und wichtigsten Handelspartner. Es ist einer der begehrtesten Diplomatenposten überhaupt, ihr neuer Arbeitsplatz liegt direkt neben dem Bundeskanzleramt am Spreebogen. Wie hat sie es bis hierhin geschafft?

Die 1961 geborene Bündnerin wächst in einer Hoteliersfamilie im Skikurort Arosa auf. Vor der pittoresken Kulisse von Obersee und Erzhorn kann sie sich schon als Kind ein Bild von der weiten Welt machen. Internationale Gäste aus den verschiedensten Kulturkreisen geniessen hier die Schweizer Berge. Ihr Vater, bereits zu Lebzeiten eine Hotellerie-Legende, führt als charismatischer Gastgeber das luxuriöse Hotel Kulm. Diplomatisches Geschick im Umgang mit anspruchsvollen Gästen kann sich Livia Leu tagtäglich von ihren Eltern abschauen. Was liegt also näher, als ins Familienbusiness einzusteigen?

Auf dem internationalen Parkett zu Hause

«Meine Eltern hatten für mich einen ähnlichen Lebensweg vorgesehen», erzählt die Diplomatin im Gespräch. Doch statt wie Mutter und Vater die Hotelfachschule in Lausanne zu absolvieren und in die gehobene Hotellerie einzusteigen, entscheidet sich Leu nach der Matura für ein Studium an der Universität. Ein angewandtes, praktisches Studienfach soll es sein, mit dem man etwas im Leben anfangen kann. Mitte der 1980er-Jahre schreibt sie sich an der Universität Zürich für Rechtswissenschaften ein, zieht das Studium im Eiltempo durch und erlangt das Anwaltspatent – auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt schon weiss, dass die Paragrafen nicht ihr Lebensinhalt sein werden. «Aber mir war es wichtig, nicht nur über ein abgeschlossenes Studium, sondern auch über einen Beruf zu verfügen – quasi als Lebensversicherung.»

Während ihres Substitutenjahrs zuerst am Gericht, dann in einer Anwaltspraxis fehlt der frischgebackenen Juristin aber die internationale Perspektive, die weite Welt, vielleicht auch das exotische Flair. 1989, nach erfolgreich bestandener Eignungsprüfung, tritt sie in den diplomatischen Dienst des EDA ein und wird als Stagiaire in Bern, Paris und Genf eingesetzt. Schnell zeigt sich, dass sie wie gemacht ist für das diplomatische Parkett. «Als Hotelierstochter habe ich von klein auf gelernt, was Gastfreundschaft heisst und wie der Umgang mit internationalen Kontakten gelingt.» Was ihr bei der Bewältigung der neuen, oft herausfordernden Aufgaben ausserdem hilft, ist eine Fähigkeit, die sie im Rechtsstudium erworben hat: auf strukturierte Art zu denken und Probleme systematisch anzugehen. «Von dieser Denkschule», ist Leu überzeugt, «habe ich auf all meinen Posten profitiert.»

Portrait Leu

Die Welt ist schwieriger geworden.

Livia Leu
Diplomatin

Lässt man die Karriere der Spitzendiplomatin im Zeitraffer Revue passieren, kann einem schon schwindelig werden. Zu ihren Stationen im diplomatischen Dienst gehören unter anderem die Schweizer Mission bei den Vereinten Nationen in New York sowie die Schweizer Botschaften in Kairo, Teheran und Paris. Dazwischen ist sie in verschiedenen Funktionen in Bern tätig, etwa als Leiterin der politischen Abteilung Afrika/Naher Osten und als Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge. Die Jahre in der Heimat sind besonders für das Wohl ihrer Familie wichtig, allen voran für ihre beiden Söhne.

Ihre Zeit im Iran hat Leu früher einmal als die intensivsten vier Jahre ihrer diplomatischen Karriere bezeichnet. Von 2009 bis 2013 vertrat sie als Botschafterin die Interessen der Schweiz und der USA im erzkonservativen Land. Bei aller Kritik etwa an den Menschenrechtsverletzungen beeindruckten sie die iranische Gastfreundschaft, die gute Bildung auch der Frauen und die Offenheit der Bevölkerung. Ihre klare, verbindliche Art öffnete ihr gerade als Frau manche Türen, die anderen Diplomaten vielleicht verschlossen blieben.

Arm in Arm mit Hillary Clinton

In ihre Amtszeit fielen die von Unruhen begleiteten iranischen Präsidentschaftswahlen, die sogenannte Grüne Revolution, und die Inhaftierung von drei Amerikaner:innen. Die Gruppe soll während einer Wanderung im kurdischen Teil des Iraks die iranische Grenze überschritten haben und sei daraufhin festgenommen worden. Zwei Jahre später, nach unzähligen Interventionen, gelang es Leu schliesslich, die Wanderer freizubekommen. Für ihre diplomatischen Verdienste im Iran wurde sie 2013 in Washington mit dem «Common Ground Award» geehrt. Ein Foto, auf dem sie Arm in Arm mit der damaligen Aussenministerin Hillary Clinton posiert, dokumentiert den Dank der USA und hat in ihrem Büro in Bern einen Ehrenplatz.

Wichtig ist der erfahrenen Diplomatin, ein realistisches Bild von ihrem Berufsleben im Dienst der Schweiz zu zeichnen. Denn wer eine diplomatische Karriere anstrebt, wählt nicht nur einen Job, sondern einen Lebensentwurf. Alle paar Jahre gilt es, sich an einer neuen Destination einzuleben. Anwärter:innen, so Leu, sollten sich bewusst sein, dass man für die «res publica», fürs Gemeinwesen arbeite. Schliesslich vertrete man den politischen Kurs der Heimat und die Entscheidungen des Bundesrats. Grundsätzlich helfe ein neugieriger, offener Charakter, ausgezeichnete Kommunikationsfähigkeiten und ein grosses Interesse an Weltpolitik. In der Diplomatie, betont die Staatssekretärin, gehe es um deutlich mehr als um Repräsentationsaufgaben und gepflegten Small Talk: «Als Schweizer Diplomatin muss ich die Interessen meines Heimatlandes freundlich im Ton, aber hart in der Sache vertreten können.» Damit das gelingt, seien ein umfangreiches Wissen und regelmässige Gespräche mit Regierungsvertreter:innen und Stakeholdern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Industrie nötig.

In diesem Zusammenhang fällt der Karrierefrau noch eine persönliche Mission ein: «Bei meinen Auslandseinsätzen ging es mir immer auch darum, zu zeigen, dass die Schweiz mehr ist als ein Land der Kühe, der Schokolade und der Uhren. Die Schweiz ist heute vor allem ein Land der Ideen und in Sachen Innovation und Wettbewerbsfähigkeit weltweit führend.» Stolz auf sein Heimatland darf man als Diplomatin schon sein.