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Gesund älter werden

Länger gesund statt länger krank

Dank medizinischen Fortschritten leben Menschen länger. Spät im Leben werden sie aber häufig mit mehreren Krankheiten konfrontiert. Die Altersmedizin versucht sowohl die gesunde Lebensspanne zu verlängern als auch Mehrfacherkrankungen besser in den Griff zu bekommen.
Stefan Stöcklin
Die Lebenserwartung steigt in der Schweiz kontinuierlich und liegt bei 85,7 Jahren für Frauen und 81,6 Jahren für Männer (Stand 2021). (Bild: istock/PeopleImages)

Neulich in den Bergen beim Wandern: Auf dem schmalen Höhenweg kreuzen sich fast ausschliesslich marschtüchtige ältere Menschen im farbigen Outdoor-Outfit, meist mit Stöcken – den Kniegelenken zuliebe. Jüngere Zeitgenossen fehlen weitgehend. Auch in der Stadt fallen dem Schreibenden, selbst auch schon über 60, die vitalen älteren Menschen auf, die federnden Schrittes über die Trottoirs schreiten und alles verkörpern, ausser alt und gebrechlich zu sein. Wir leben im Zeitalter der Healthy Agers. Die Altersforscherin Heike Bischoff-Ferrari kann diesen subjektiven Eindruck nur bestätigen: «Über 50 Prozent der Schweizer Teilnehmer:innen unserer DO-HEALTH-Studie im Alter über 70 Jahren sind Healthy Agers.»


Diese gesunden Senior:innen haben keine altersbedingten Leiden, die sie stark einschränken, oder höchstens solche, die sich gut behandeln lassen, Stichwort Bluthochdruck. Sie sind körperlich und geistig aktiv, pflegen soziale Kontakte und achten auf ihre Gesundheit. Bischoff-Ferrari spricht von einem Schweizer Trumpf, denn laut dieser Studie hat das Land zusammen mit Österreich den höchsten Anteil gesunder älterer Menschen. Schusslicht ist Portugal mit einem Anteil von gerade mal neun Prozent Healthy Agers.

Gesunde Lebenszeit verlängern

Die Lebenserwartung hat sich in der Schweiz wie in den meisten Industrieländern seit über 100 Jahren kontinuierlich verlängert und liegt unterdessen bei 85,7 Jahren für Frauen und 81,6 Jahren für Männer (Stand 2021). Mit der rekordhohen Lebenserwartung ist zwar auch der Anteil gesunder Lebensjahre gestiegen, wie die Golden Agers schön zeigen, denn noch vor einer Generation waren die gesunden Senior:innen über 70 eher die Ausnahme als die Regel.

Aber die altersbezogenen Krankheiten schlagen trotzdem zu, namentlich Herz-Kreislauf-Erkankungen, Krebs, Demenz und Diabetes – einfach später. Aufgrund der stark gestiegenen Lebenserwartung hat sich der Anteil der Jahre gar vergrössert, während deren wir mit Gebresten und Krankheiten konfrontiert sind. Gemäss Statistiken verbringen Schweizer Senioren im Schnitt 12 Jahre und Seniorinnen 14 Jahre ihres Lebens mit «eingeschränkter Gesundheit».

Verstärkend hinzu kommt die Alterung der Gesellschaft. Bereits heute machen die über 60-Jährigen einen Anteil von 20 Prozent aus, Tendenz steigend. Die grosse Herausforderung der Altersmedizin liegt also darin, die gesunde Lebenszeit einer steigenden Zahl von Senior:innen zu verlängern: «Ziel ist es, mehr Menschen zu ermöglichen, länger gesund und aktiv zu bleiben», sagt Heike Bischoff-Ferrari.

Bischoff-Ferrari

Die Herausforderung der Altersmedizin liegt darin, die gesunde Lebenszeit einer steigenden Zahl von Senior:innen zu verlängern.

Heike A. Bischoff-Ferrari
Altersforscherin

Wie das gehen könnte, zeigt die Forscherin gerade mit einem «niederschwelligen» Präventionskonzept basierend auf sechs wichtigen Körperfunktionen: Mobilität, Gedächtnis, Hören, Sehen, mentale Gesundheit und Ernährung. «Wir wissen, dass diese sechs Grössen mit dem aktuellen und dem zukünftigen Gesundheitszustand korrelieren», sagt die Forscherin. Diese sechs Funktionen können die Teilnehmer:innen des Projekts anhand eines kurzen Fragebogens für sich einschätzen. Bei einer Verschlechterung erhalten sie Hilfe zur Selbsthilfe und bei Bedarf interveniert das Gesundheitspersonal mit einfachen Massnahmen.

Es sei wichtig, bei diesen Funktionen anzusetzen und den Betroffenen klarzumachen, dass eine Verschlechterung nicht einfach als «normaler Alterungsprozess» hingenommen werden muss, betont Bischoff-Ferrari. So können zum Beispiel Stürze, ein grosses Gesundheitsproblem älterer Menschen, deutlich reduziert werden. Oder Hörverlust. Es ist unterdessen gut belegt, dass Schwierigkeiten mit dem Gehör die Entwicklung einer Demenz fördern. Es lohnt sich also, lieber früher als später ein Hörgerät zu nutzen. In Zusammenarbeit mit Pro Senectute plant die Altersforscherin, das Konzept ICOPE (Integrated Care for Older People) in Gemeinden des Kantons Zürich den Senior:innen zugänglich zu machen.

Mehrfacherkrankungen sind die Regel

Die Fortschritte der Medizin haben dazu geführt, dass viele Betroffene einst gefährliche Krankheiten überleben und mit den Störungen oder Beeinträchtigungen alt werden. Mit der verlängerten Lebensspanne kommen weitere Krankheiten hinzu, die sich erst spät im Leben manifestieren. Die medizinischen Erfolge führen zur paradoxen Situation, dass die Menschen gleichzeitig älter werden und an mehr Leiden erkranken als früher.

Ärzte sprechen von Mehrfacherkrankungen oder Multimorbidität, wenn zwei oder mehr chronische Erkrankungen oder Störungen vorliegen. «Multimorbidität ist bei älteren Menschen die Regel», sagt Edouard Battegay vom UFSP «Dynamik Gesunden Alterns». Gemäss einer neueren Studie bei Hausärzten leiden die Hälfte der über 65-jährigen Schweizer:innen an drei leichten bis mittleren Krankheiten, wobei 80 Prozent mindestens ein Medikament zu sich nehmen. Bei den notfallmässig hospitalisierten Patient:innen der Inneren Medizin des USZ sind 70 bis 90 Prozent «schwer multimorbid».

Edouard Battegay

Mehrfacherkrankungen sind eine grosse Herausforderung, weil sich Behandlungen gegenseitig stören können.

Edouard Battegay
Mediziner

Für die Ärztinnen und Ärzte sind Mehrfacherkrankungen eine grosse Herausforderung, denn sie können zu Zielkonflikten bei der Behandlungen führen, weil sich die Massnahmen gegen die Einzelerkrankungen gegenseitig stören. Edouard Battegay erläutert das Beispiel eines Patienten, der wegen Herzproblemen (Vorhofflimmern) Medikamente zur Blutverdünnung einnehmen muss und gleichzeitig an einer Magen-Darm-Blutung leidet. Einerseits wäre es nun angezeigt, die Blutverdünnung abzusetzen, andererseits steigt damit das Risiko für Komplikationen bei den Herzbeschwerden.

Ein anderer Fall betrifft Bluthochdruck und Schmerzen, beides häufige Leiden älterer Patient:innen. Schwierig ist diese Situation, weil Schmerztherapien mit Antirheumatika die Einstellung des Blutdrucks negativ beeinflussen, ebenso wie manche Antidepressiva, die teilweise bei chronischen Schmerzen eingesetzt werden. Ein drittes Beispiel betrifft Diabetes, ebenfalls ein häufiges Leiden bei älteren Menschen, und Atemwegserkrankungen, die mit entzündungs-hemmenden Steroiden behandelt werden. Diese Wirkstoffe befördern einen Diabetes, was natürlich unerwünscht ist.

«In all diesen Fällen gilt es, zwischen den verschiedenen Krankheiten Prioritäten zu setzen und eine individuelle Lösung zu finden», sagt Battegay. Massgebend sind dann der Erfahrungsschatz und die Aufmerksamkeit des medizinischen Personals. Denn Leitlinien, wie bei solchen schwierigen Konstellationen zu verfahren sei, fehlen weitgehend. Battegay hält diese Situation für höchst problematisch, denn die beschriebenen therapeutischen Dilemmata sind eher die Regel als die Ausnahme.

So untersuchte ein Forschungsteam retrospektiv die Fallgeschichten von 166 Patienten aus dem Notfall der Inneren Medizin des Zürcher Universitätsspitals (USZ). Insgesamt eruierten die Autoren 239 therapeutische Konflikte, darunter 29 Prozent, die als «schwer» zu werten sind. «Trotz der Häufigkeit ist das Thema Multimorbidität im medizinischen Mainstream nicht angekommen», bedauert der Arzt, der während 13 Jahren die Klinik für Innere Medizin des USZ leitete. Battegay hat sich zum Ziel gesetzt, das Thema auf die Agenda zu setzen, und gründete das International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC).

Das Start-up befindet sich im Aufbau und hat unter anderem zum Ziel, Strategien für häufige medizinische Konfliktsituationen zu entwickeln. Gerade für Hausärzt:innen, eine wichtige Anlaufstation älterer Patientinnen und Patienten, die meist von mehreren Krankheiten betroffen sind, wären solche Vorgaben essenziell. Auch in der universitären Spitzenmedizin sieht Battegay Handlungsbedarf. «Die umfassende und koordinierende Betreuung multimorbider Patient:innen muss viel mehr Gewicht erhalten», so Battegay.

Neue zelluläre Ansätze

Die letzten Lebensjahre sind noch immer häufig von Krankheiten gezeichnet. Die Altersmedizin arbeitet mit Hochdruck daran, gerade diese letzte kranke Phase zu verkürzen und die gesunde Lebensspanne zu verlängern. Heike Bischoff-Ferrari verspricht sich viel vom neuen Feld der Geroscience, das die biologischen Alterungsprozesse unter die Lupe nimmt.

Dazu gehören zum Beispiel die Veränderungen des Energiestoffwechsels in den Zellen, die zu chronischen Erkrankungen und Funktionsverlust führen. Oder die epigenetischen Faktoren, die laut der Forscherin einen grossen Teil der Variabilität unserer Lebenserwartung erklären dürften. Gesucht werden Biomarker, das heisst messbare epigenetische oder zelluläre Grössen, die biologische Schutzmechanismen und den Alterungsprozess mitbestimmen. Wie beim Blutdruck könnte dann präventiv interveniert werden, wenn ein solcher Biomarker aus dem Ruder läuft.

Bischoff-Ferrari kollaboriert zum Thema Geroscience mit der Universität Toulouse im Programm «HealthAge». Vergangenen Mai hat kein Geringerer als Präsident Emmanuel Macron zehn Millionen Franken für die Anschubfinanzierung bewilligt, sagt Bischoff-Ferrari mit Stolz. Eine ähnliche Stossrichtung hat das Projekt «Precision Age» der UZH (siehe Kasten unten).

Ob dank diesen und weiteren Projekten der Geroscience die Lebenserwartung weiter steigen wird wie bisher, wird sich zeigen. Gemäss Statistik könnte die maximale Lebensspanne in der Schweiz um das Jahr 2150 erreicht werden und 112 Jahre für Männer und 115 Jahre für Frauen betragen – gut 30 Jahre mehr als heute. Stimmt diese Prognose, dann werden sich in Zukunft vitale 100-jährige in den Bergen kreuzen.

Dieser Artikel stammt aus dem Dossier «Gesund älter werden» des UZH Magazins 3/2023

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