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Chemie

Zufall und Pringles

Die Chemiker Michel Rickhaus und Fabian von Rohr haben sich darauf spezialisiert, neue Materialien zu suchen, die in der Elektronik der Zukunft eine wichtige Rolle spielen könnten.
Roland Fischer
Rickhaus und von Rohr schreiben auf einer durchsichtigen Wandtafel chemische Formen
Auf verschiedenen Wegen ans gleiche Ziel? Die beiden Che­miker Fabian von Rohr (links) und Michel Rickhaus experimentieren mit neuen Materialien.


Es ist eine ebenso simple wie vertrackte Forschungsfrage: Wie findet man ganz neue Materialien? Supraleiter zum Beispiel: Stoffe, die Strom ganz ohne Verlust zu leiten vermögen. Oder früher vielleicht mal Glas. Ein fester Stoff, der komplett durchsichtig ist. Vor der Entdeckung vor rund 2000 Jahren hätte man gesagt, das gehe höchstens durch Magie. Michel Rickhaus und Fabian von Rohr sind beide auf der Suche nach solchen neuartigen Materialien. Als Magier sehen sie sich keineswegs, als Tüftler vielleicht schon ein wenig. Beide suchen mit ihren Teams im Labor auf ganz verschiedenen Wegen nach einer Substanz, die sich ganz anders verhält, als man das von «normalen» Materialien kennt. Von Rohrs Forschungsgruppe fabriziert mithilfe hoher Temperaturen «emergente» Quantenmaterialien und neue Materialien mit «nicht trivialen topologischen elek­tronischen Zuständen». Hinter der geheimnisvoll klingenden Beschreibung verbirgt sich möglicherweise die Zukunft der Elektronik. Michel Rickhaus’ Gruppe hat sich auf die Herstellung «intelligenter» Drähte spezialisiert, die auf ihre Umgebung reagieren, sich bei Defekten selbst heilen und gar auf Befehl zusammengesetzt und abgebaut werden können. Ein wenig wie Magie klingt das schon.

Extreme physikalische Zustände

Beide Forscher haben für ihre innovativen An­sätze einen namhaften Zustupf aus dem Fonds zur Förderung des akademischen Nachwuchses (FAN) erhalten (siehe Kasten). Zusammengearbeitet haben sie noch nicht, aber die Forschung des anderen verfolgen sie mit Interesse. Rickhaus sieht in von Rohrs Arbeit ein gewisses Mass an «Serendipity». Ein Wort, für das uns ein deutsches Pendant fehlt. Es meint damit die Offenheit für Zufallsfunde, ein Stöbern das immer bereit ist, ein wenig links und rechts zu schauen. Von Rohr gibt seinem Kollegen in gewissem Sinne recht: In ihrem Labor stellen er und seine Gruppe Materialien unter extremen physikalischen Zuständen her, um Mischungen von chemischen Elementen in ungekannte Anordnungen zu zwingen.

Während von Rohr dem Zufall eine Chance gibt, ist Rickhaus eher der Künstler: ein Bildhauer, der an einer Skulptur arbeitet, so sieht er sich. «Was eine chemische Struktur für Eigenschaften hat, finden wir heraus, indem wir sie erschaffen.» Eine gewisse Experimentierfreude kann auch da nicht schaden. Neue Materialien finde man eben nur, wenn man danach suche, sagt Rickhaus. «Es mag trivial klingen, aber sie zu finden, heisst, sie herzustellen. Und zwar ohne immer genau zu wissen, was dabei entsteht.» Eine gute Idee zu haben, reicht nicht – «die entsprechende Substanz muss dann synthetisiert und charakterisiert werden.»

Quantenmechanische Zaubertricks

Was dabei herauskommt, ist im Glücksfall tatsächlich bahnbrechend. Und in Anwendungsfeldern wie der Elektronik auch dringend notwendig. Denn man geht davon aus, dass das Silizium-Zeitalter bald zu Ende geht, weil die gängigen Chips an die physikalischen Grenzen stossen (siehe Kasten unten). Was danach kommt, zeichnet sich in den Forschungslabors jetzt schon ab: das Post-Sili­zium-Zeitalter. Es wird unter anderem geprägt sein von neuartigen Quantenmaterialien. Deren Eigenschaften sind dominiert durch makroskopische Quanteneffekte, «die aufgrund kollektiver emergenter Interaktionen der Elektronen auftreten», wie es von Rohr umschreibt. Will heissen: Ein ganzes Material vollführt plötzlich quantenmechanische Zaubertricks. Solche Materialien haben das Potenzial für komplett neuartige elektronische Anwendungen. Sie könnten als elementare Bausteine für die so genannten Spintronics, Valleytronics oder ­Topotronics zum Einsatz kommen. Solche neuen Arten von Elektronik nutzen nicht allein die Ladung von Teilchen zur Informationsverarbeitung, sondern auch weitere – quantenmechanische – Eigenschaften wie zum Beispiel ihre Topologie. Die topologische Natur elektronischer Zustände ist ein Schlüsselkonzept, das in den letzten Jahren zu einer regelrechten Revolution im Verständnis von Quantenmaterialien geführt hat. Wie genau Materialien beschaffen sein müssen, damit diese nicht klassischen oder eben «nicht trivialen» elektronischen Zustände am besten zum Tragen kommen, das versucht von Rohr mit seiner aufstrebenden Gruppe herauszufinden.

«Unsere tägliche Forschung im Labor ist sehr unterschiedlich», meint Fabian von Rohr mit Blick auf die Arbeit von Michel Rickhaus, auch wenn es in der Anwendung womöglich Überschneidungen geben könnte. Aber wo diese Anwendung liege, wisse man eben noch nicht so genau, wenn man Grundlagenforschung betreibe. Man könne sich diese neuen Materialien als unentdeckte Insel vorstellen – «aus der Ferne erahnen wir, dass dort am Horizont eine Insel ist, aber wir müssen erst hinfahren, um sie erforschen zu können.» Und zumindest bei seinem Forschungsansatz sagt von Rohr, «könnte es schon sein, dass dazwischen unverhofft ein ganzer Kontinent auftaucht».

Moleküle stapeln

Die Entdeckung eines neuen Kontinents erwartet Michel Rickhaus bei seiner Forschung weniger. Er kommt von der organischen Chemie, deshalb ist er es gewohnt, Verbindungen von Grund auf aufzubauen. Anders als in der derzeit dominanten Polymerchemie, in der mit riesigen, fest verketteten Molekülen gearbeitet wird, versucht seine Gruppe, Stoffe kontinuierlich aufzubauen. Solches Design von Grund auf zu entwickeln, ist entsprechend aufwändig: Nur schon zwanzig Atome präzise zusammenzuhängen, ist eine Herkulesaufgabe. Rickhaus’ geniale Idee: mit kleinen Molekülbauteilen arbeiten und diese kleinen Einheiten tausend- oder milliardenfach zu wiederholen – sie zu stapeln, aneianderzureihen, aus ihnen also grössere Strukturen wachsen zu lassen. Drähte zum Beispiel. «In der klassischen organischen Chemie ist die Form des Moleküls selber nicht so wichtig, sagt Rickhaus, «wir hingegen haben einen architektonischen Ansatz, der gezielt mit Molekülformen arbeitet». Ein Draht ist in dieser Perspektive nichts anderes als ein Miniaturturm. Nur: «Wenn wir einen Turm bauen wollen, können wir einfach flache Scheiben aufeinanderschichten. Doch so ein Turm wird wacklig sein, weil sich die einzelnen Elemente viel zu leicht zueinander verschieben.» Wenn man stattdessen Moleküle in Sattelform zusammenfügt, ergibt sich so etwas wie ein Pringles-Stapel, der viel stabiler ist. Rickhaus’ Ziel: vom kleinen Molekül, das für sich noch keine interessanten Materialeigenschaften hat, zu etwas Grösserem kommen, das zum Beispiel auf einmal leitfähig wird. Und das dann als Material auch konkret irgendwo «verbaut» werden könnte. In ihrer Forschung gehe es darum, von der Grundlagenforschung in die reale Welt hineinzukommen, sagt Rickhaus.

Rein rational funktioniert nicht

Das hat einen tollen Nebeneffekt: Weil diese kleinen Bauteile nicht kovalent aneinander gebunden sind, kann man das «Bauwerk» auch relativ leicht manipulieren. Mit dem richtigen Anstoss – sei er chemisch oder physikalisch – zerfällt es wieder in seine Einzelmoleküle. Oder man ändert die Umgebungsbedigungen und aktiviert damit «selbstheilende» Fähigkeiten – die Moleküle ordnen sich wieder ihrer Makrostruktur gemäss an. Anders als von Rohr, der auch einmal etwas passieren lässt und dann schaut, was dabei rauskommt, versucht Rickhaus, möglichst viele Parameter schon vorzudefinieren. «Wir codieren die räumliche Anordnung in den einzelnen Bauteilen.» Aber natürlich ist auch hier nie alles komplett planbar. So kann etwa Folgendes passieren: «Wenn man einen geraden Stapel wachsen lassen will, landet man plötzlich bei einem Ring», erklärt der Chemiker.

Solche Überraschungen können einen auf neue Ideen bringen. Ein wenig verspielt müsse man als Materialforscher wohl schon sein, eine rein rationale Vorgehensweise würde nicht funktionieren, glaubt Rickhaus. Von Rohr pflichtet bei: Das Experimentieren mit offenem Ausgang sei sehr wichtig. Die Frage der Anwendung sei in einem solchen Moment weit weg. Denn von hundert Ideen stelle sich vielleicht eine als tatsächlich realisierbar heraus. Hier zeigt sich, was einen erfolgreichen jungen Forscher vielleicht vor allem auszeichnet: Beharrlichkeit.

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