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Neurochirurgie

Anschlag auf den Hirntumor

Sägt Marian Neidert am Ast, auf dem er sitzt? Als Neurochirurg operiert er Hirntumoren, als Forscher will er dem Immunsystem beibringen, sie zu bekämpfen. Bis Immuntherapien Eingriffe überflüssig machen, kann es allerdings noch dauern.
Michael T. Ganz
Neurochirurg Marian Neidert hofft, dass er in 20 bis 30 Jahren keine Schädeldecken mehr aufsägen muss – dank Immuntherapien, die Hirntumoren bekämpfen.


Im Jargon nennt man es «den Kopf eröffnen». Einen Schnitt durch die Kopfhaut führen und diese mit Spreizern fixieren. Ein Loch in den Schädelknochen bohren, mit der Säge eine Zugangsöffnung aussparen. Die harte Hirnhaut hufeisenförmig auftrennen und sie zur Seite klappen. Jetzt liegt das Gehirn frei. «Schon beim allerersten Mal war das für mich ein faszinierender Moment und ist es jedes Mal wieder», sagt Marian Neidert. «Die Ästhetik des pulsierenden Gehirns. Der Respekt und die Ehrfurcht beim Anblick dieses Organs. Es steuert alles, was uns ausmacht. Unser Denken, unser Handeln, unser Wesen.» Bevor Marian Neidert zum Skalpell greift, plant er den Eingriff wie ein Pilot seinen Langstreckenflug. Er wertet Bilder aus, setzt Wegpunkte, legt Strategien fest. Besonders wichtig ist dies dann, wenn Tumoren an wichtige Funktionszentren stossen. Da braucht es Vorsichtsmassnahmen. Elektrische Stimulationen etwa, welche die Nähe zu wichtigen Strukturen wie motorische Bahnen anzeigen. Und Fluoreszenzfarbstoffe, Ultraschall oder intraoperatives MRI, die den Tumor besser sichtbar machen.

Liegt der Tumor nahe beim Sprachzentrum, bleibt der Patient während der Operation wach; Logopädinnen und Neuropsychologen unterhalten sich mit ihm, damit der Operateur im Bedarfsfall rechtzeitig reagieren kann. Operationen am menschlichen Schädel sind heikel. Im Gegensatz zu vielen anderen Wucherungen unterscheiden sich Hirntumoren kaum von gesundem Gewebe und sind deshalb selbst unter dem Operationsmikroskop nur schwer zu erkennen. Ein Umstand, der es dem Chirurgen nicht leichter macht, möglichst viel vom Tumorgewebe zu entfernen, ohne dabei gesundes Gewebe zu schädigen. «Das ist die grosse Gratwanderung», sagt Marian Neidert. «Ob ich zu viel herausnehme oder zu wenig – beides ist bei Hirnoperationen prognostisch schlecht.»

OP unter dem Mikroskop

Präzision ist deshalb alles. Am Gehirn wird unter dem Mikroskop operiert, oft mithilfe der sogenannten Neuronavigation, einer Art GPS für die millimetergenaue Verortung des Eingriffs. Im eigentlichen Hirngewebe kommen keine Skalpelle mehr zur Anwendung, ihre Schnitte sind zu grob. Der Chirurg benutzt vielmehr winzige Sauger und bipolare Pinzetten, deren Elektroden Blutgefässe verschliessen können. Oder er verwendet einen Ultraschall-Aspirator, der das Tumorgewebe gleichzeitig pulverisiert, spült und absaugt. Oberflächliche Tumoroperationen dauern bis zu zwei Stunden, komplexere Eingriffe – etwa solche an der Schädelbasis – oft über zehn. Marian Neiderts längste OP war erst nach sechzehn Stunden beendet.

Dauerhaft heilen lassen sich auf diese Weise nur gutartige Hirntumoren wie zum Beispiel Meningeome, die aus den Zellen einer Hirnhautschicht entstehen. Maligne Hirntumoren wie etwa das Glioblastom oder Metastasen, die von anderen Krebsherden im Körper herrühren, sind chirurgisch kaum dauerhaft heilbar. Hier kann der Chirurg zwar die Tumormasse reduzieren, und mit Bestrahlung und Chemotherapie lässt sich das Wachstum des verbleibenden Gewebes verlangsamen. Gänzlich zum Stillstand bringen lässt es sich in den meisten Fällen aber nicht. Denn die Chirurgie ist, aller Spitzenmedizin zum Trotz, nicht genau genug fürs Gehirn.

Präzises Immunsystem

Genau genug ist nur unser Immunsystem. «Die Präzision von Immunzellen werde ich als Operateur nie erreichen», sagt Marian Neidert. Ein Grund, weshalb ihn das Potenzial des menschlichen Immunsystems schon im Studium zu interessieren begann. Die Chance also, mit körpereigenen Stoffen Abwehrreaktionen anzuregen, die eine punktgenaue Selbstheilung ermöglichen. Heute ist der Privatdozent der Universität Zürich auf gutem Weg zum Ziel. Gemeinsam mit Spezialisten der Neurochirurgie und der Neurologie am Zürcher Universitätsspital sowie mit Forschenden der Universität Tübingen und des Kantonsspitals St. Gallen – Neidert ist hier als stellvertretender Chefarzt tätig – hat er bereits erste Voraussetzungen geschaffen, um irgendwann Immunzellen so zu stimulieren, dass sie bösartigen Hirntumoren den Garaus machen. «Das alles», so Neidert, «ist keine One-Man-Show, sondern erfordert viel Kooperation und ein starkes Team.»

Als Erstes erstellte Marian Neidert in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen, wo er einst sein Medizinstudium begann, einen Atlas aller Immunpeptide im gesunden Körpergewebe. Solche Peptide sind Antigene, die den Gesundheitszustand einer Zelle erkennen lassen (siehe Kasten). Der Peptid-Atlas listet aktuell gut 230000 Peptide aus rund 30 Gewebesorten auf, ist mittlerweile online und steht Forscherinnen und Forschern rund um die Welt zur Verfügung. Mit dem Atlas lassen sich im Ausschlussverfahren kranke Zellen erkennen. «Mit der Immuntherapie sollen nur Tumorzellen und nicht auch gesundes Gewebe angegriffen werden», erklärt Neidert. Der Atlas trägt also sowohl zur raschen Findung tumorspezifischer Peptide als auch zur erhöhten Sicherheit beim Therapieren bei.

Die Bösesten der Bösen

Als Zweites nutzt Neidert seinen Hauptberuf als Chirurg, um die Forschung voranzutreiben: Zusätzlich zu den Gewebeproben, die routinemässig zur histologischen Untersuchung gehen, zweigt er bei jedem Eingriff Stücke des entfernten Tumorgewebes für die Forschung ab – freilich nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Patientinnen und Patienten und der kantonalen Ethikkommission. «Ich nehme Proben aus verschiedenen Zonen des Tumors und lege sie auf einen eigens dafür bereitgestellten sterilen Tisch im Operationssaal», sagt Neidert. Ein Teil der Proben wird danach frisch analysiert, ein Teil für spätere Untersuchungen auf Eis gelegt oder tiefgefroren.

Im Labor tauscht Marian Neidert dann den Chirurgenhut mit dem des Forschers. Er vergleicht die Peptide der Tumorproben mit denjenigen im Atlas der gesunden Peptide. Die als «krank» identifizierten Exemplare bringt er in Zellkulturen ein; so kann er feststellen, ob sie von Immunzellen erkannt und allenfalls aktiviert werden, ob also eine Immunreaktion eintritt. Ist dies der Fall, funktioniert das Peptid als Antigen. Ein einziges Antigen allein reicht allerdings nicht für eine erfolgreiche Immuntherapie. «Hirntumoren sind heterogen», sagt Neidert. «Deshalb suchen wir nach möglichst vielen geeigneten Peptid-Sequenzen. Nach ganzen Listen von Antigenen. Oder nach einem Antigen-Cocktail.»

In Hirntumoren sind nicht alle Zellen gleich. Neben kurzlebigen Sorten gibt es langlebige Tumorstammzellen, «die Bösesten der Bösen», wie Neidert sie nennt. Auch die Regionen eines Tumors unterscheiden sich je nach ihrer Aktivität. «Unser Ziel ist es, mit dem operativen Eingriff die Tumor-Hauptmasse zu entfernen und mit der Immuntherapie den Tumor in allen anderen Zonen in Schach zu halten», sagt Marian Neidert. Für die nächsten Jahre setzt er auf eine sinnvolle Kombination klassischer OPs mit der neuartigen Therapie. Denn auf den mechanischen Eingriff lasse sich nicht immer verzichten; allzu oft machten wachsender Druck im Gehirn oder Ausfälle wichtiger Körperfunktionen eine sofortige Operation notwendig.

Ob bloss postoperativ oder als OP-Ersatz: Der Immuntherapie im neuronalen Bereich gibt Neidert gute Chancen. Die nötigen Peptide lassen sich chemisch herstellen und als therapeutischer Impfstoff verwenden. Dabei gilt es allerdings, die Blut-Hirn-Schranke auszutricksen, die das Zentralnervensystem mit einem Filter vom übrigen Blutkreislauf trennt. Eine Impfung mit Antigenen in eine der gängigen Körpervenen oder in die Haut brächte da kaum Erfolg. Eine effektivere Methode bestünde darin, Immunzellen des Patienten im Labor mit Peptiden auf Immunität zu trainieren und sie dann über eine Kanüle direkt in die Tumorhöhle zu reimplantieren.

Keine Köpfe mehr aufsägen

Beides ist vorderhand Zukunftsmusik. Bis zum Start erster klinischer Studien braucht es noch ein bis zwei Jahre. Bis die Immuntherapie des Hirntumors ihren Weg in die angewandte Onkologie findet, dauert es deutlich länger. «Vor allem müssen wir herausfinden, wie wir den hochkomplizierten Analyseapparat verschlanken können», sagt Marian Neidert. «Der Aufwand und die Logistik zur Bestimmung der Antigene sind zurzeit noch enorm.» Es gelte, alles zu eliminieren, was im klinischen Alltag nicht unbedingt notwendig sei. Erst dann werde die Immuntherapie von Hirntumoren massentauglich. Und wenn sie einmal massentauglich ist – bricht dann der Ast, auf dem Neidert heute sitzt, an dem er heute schon sägt? Immerhin verdient er seinen Lebensunterhalt mit hochspezialisierter Hirntumor-Chirurgie und hat schon über tausend Eingriffe hinter sich. Neidert schmunzelt und schüttelt den Kopf. «Wenn es tatsächlich so weit kommt, dass ich weniger Tumoren operieren muss und sich mein Beitrag darauf beschränkt, Gewebeproben zu entnehmen und über Kanülen Tumoren zu therapieren, kann ich sehr gut damit leben. Ich wünsche mir sogar, dass es in 20 oder 30 Jahren gar keine solche Operationen mehr gibt und meine Enkel ungläubig staunen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich einst Köpfe aufgesägt und am offenen Hirn gearbeitet habe.»

 

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