Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Soziologie

Fürchten, was man nicht kennt

Bereits Kinder sind gegenüber Fremden mehr oder weniger offen und tolerant. Anders als bei Erwachsenen sind diese Haltungen aber noch einfacher zu verändern. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Freunde.
Michael T. Ganz
Gegen Masseineinwanderung: Aufmarsch von Rechtsextremen im Mai 2015 in Essen. (Bild: Jochen Tack/Keystone)

 

Im Jahr 2015 drängten 1,3 Millionen Menschen aus Krisenländern nach Westeuropa. Das Jahr markiert den Höhepunkt dessen, was als «Flüchtlingskrise» in die Geschichtsbücher eingehen wird. Seither ist Migration die für Europa wohl grösste aller politischen, gesellschaftlichen und ethischen Herausforderungen des Jahrhunderts. Gleichzeitig hat die politische Rechte in Europa massiv zugelegt. Sie wehrt sich mit allen Mitteln gegen Masseneinwanderung und knüpft an Existenzängste an, welche die Wirtschaftskrise von 2008 in Europa geschürt hatte.

«Wir wollen herausfinden, wie negative Einstellungen gegenüber Immigrantinnen und Immigranten entstehen», sagt Eldad Davidov. Davidov lehrte bis 2016 an der Universität Zürich Soziologie. Dann wechselte er an die Universität Köln, behielt in Zürich jedoch eine Professur ad personam. Im Rahmen eines Umfrageprojekts des European Social Survey ESS (siehe Kasten) sucht er seit 2012 als Vertreter der UZH zusammen mit Sozialwissenschaftlern anderer Länder nach den Gründen für Fremdenfeindlichkeit – und nach Möglichkeiten, diese zu mindern.

Fremdenfeindlichkeit beginne bei alltäglichen Dingen, sagt Davidov. Zum Beispiel beim negativen Einfluss, den fremd klingende Namen oder ein fremd klingender Akzent bei der Wohnungssuche haben können, dies selbst bei gleichwertigen Bewerbungsunterlagen.

Messen lasse sich Fremdenfeindlickeit allerdings nur schwer. Davidov: «Misst du einen Tisch, sind die Masse auch morgen noch dieselben. Misst du menschliche Einstellungen und Meinungen, ist das Resultat jeden Tag ein bisschen anders.» Individuelles Sozialverhalten lässt sich wissenschaftlich nur schwer erheben. «Und», sagt Davidov, «was Menschen sagen, ist oft nicht, was sie denken.» Zweifelsfrei gebe es aber eine starke Verbindung zwischen persönlicher Einstellung und persönlichem Verhalten. Darauf fusst denn auch die Forschung, die Davidov und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Europa betreiben.

Wenig Kontakt, mehr Angst

Die bisherigen Ergebnisse der grossangelegten ESS-Studie zeigen: Je weniger Kontakt wir zu Ausländern haben und je grösser unsere Angst ist, dass sie uns unser Brot wegessen oder unsere Kultur verändern, desto stärker wächst unser Widerstand gegen Immigration. Diese Wahrnehmungen finden sich – immer gemäss Studie – allem voran bei konservativ denkenden Menschen. Konservative politische Parteien nutzen Vorbehalte dieser Art denn auch für ihre Parolen zum Thema, in der Schweiz beispielsweise in der Asylpolitik.

Es sind jedoch nicht nur individuelle Befindlichkeiten, die den Grad von Akzeptanz oder Opposition bestimmen, sondern auch die Eigenschaften ganzer Gruppen – bis hin zu Eigenschaften ganzer Länder. Die ökonomische Situation eines Landes, die Ausrichtung seiner Migrations und Integrationspolitik sowie die Berichterstattung seiner Medien können das Verhalten einer ganzen Nation prägen. «Punkto Akzeptanz und Opposition unterscheiden sich die europäischen Länder stark», sagt Eldad Davidov.

Zu den guten Beispielen zählen Schweden, Norwegen und Deutschland. Dort findet sich die positivste Einstellung zu Migrantinnen und Migranten. Den Grund dafür vermutet Davidov in einer geglückten Kombination von fortschrittlicher Integrationspolitik und einer relativ komfortablen wirtschaftlichen Situation, die die Ängste der Bevölkerung mindert. Anders in Ungarn, Tschechien und Österreich: Hier verorten die Wissenschaftler den grössten Widerstand gegen Einwanderer. In Ungarn und Tschechien spielt dabei die ökonomische Unsicherheit eine Rolle. Nicht nur individueller, sondern auch kollektiver Existenzängste wegen begegnen viele Bürger und Bürgerinnen in Osteuropa der Immigration mit Argwohn.

Und die Schweiz? «Sie liegt gemäss ESS-Zahlen irgendwo im mittleren Bereich der westeuropäischen Länder», sagt Eldad Davidov. Obwohl das kleine Land im internationalen Vergeich wirtschaftlich kaum durch Immigration gefährdet ist, gibt der sogenannte Migrant Integration Policy Index MIPEX – er misst gewissermassen die Härtestufen der jeweiligen Migrationspolitik – der Schweiz keine Bestnoten. Schuld daran sind gemäss MIPEX der vergleichsweise restriktive Zugang zum Erwerb der Schweizer Nationalität und der ungenügende staatliche Schutz vor Diskriminierung.

Mehr Kontakt, grössere Akzeptanz

Wer die Migrationspolitik in Europa mitverfolgt, den vermögen die Erkenntnisse aus MIPEX und ESS-Studie kaum zu erstaunen. Sie klingen vielmehr wie selbtsterfüllende Prophezeiungen. Dennoch hat das länderspezifische Sammeln und Auswerten wissenschaftlicher Daten zur Immigration einen tieferen Sinn. «Wir brauchen die Resultate, um allgemeine Vermutungen zu untermauern», erklärt Davidov. Dies nicht zuletzt, um der Politik wichtige Anhaltspunkte zu geben.

Denn mit den richtigen Signalen können Regierungen die Einstellung und das Verhalten der Bevölkerung nachhaltig verändern. Positive Signale einer Regierung in der Ausländerpolitik – zum Beispiel durch integrationsfördernde Gesetze – führen zu erhöhter Akzeptanz von Immigranten, erhöhte Akzeptanz führt zu mehr Kontakt, mehr Kontakt zu besserer Integration. «Es geht darum, in der Bevölkerung Ängste abzubauen», sagt Eldad Davidov. «Doch: Ängste zu schüren, wie es rechtspopulistische Kreise tun, ist viel einfacher.»

Vorurteile und Ängste abbauen geht da am leichtesten, wo noch kaum Vorurteile und Ängste da sind – bei Kindern. Wie begegnen Kinder gleichaltrigen Immigrantinnen und Immigranten? Um Antworten zu finden, hat sich Eldad Davidov an zwei parallelen Langzeitstudien mit schweizerischen und polnischen Schülern beteiligt. Über einen Zeitraum von zwei Jahren befragten die Forschenden in Zürich und in Warschau wiederholt je rund tausend Kinder der ersten bis neunten Klasse zu ihrer Einstellung zu Minderheiten. «Die Studie ist im Gegensatz zu jener des ESS nicht repräsentativ», räumt Davidov ein. «Aber es war schon schwierig genug, überhaupt an Schulen Daten erheben zu dürfen.»

Wärst du gerne ihr Freund?

Bei den Kleineren arbeiteten die Forschenden mit einfachen Zeichnungen, die muslimische und schwarze Buben und Mädchen zeigten. «Wärst du gerne ihr Freund?» war beispielsweise eine Frage, die sich auf einer sechsstufigen Skala zwischen Ja und Nein beantworten liess. Im Lauf der Langzeitstudie beobachteten die Soziologen dann, ob Freundschaften zwischen Kindern deren ursprüngliche Haltung gegenüber Ausländern beeinflussten. «In diesem Alter sind Freundschaften eminent wichtig», sagt Davidov, «und die Dynamik zwischen dem, was Kinder denken, und dem, was ihre Freunde sagen, ist von grosser Bedeutung.»

Im Bereich der Ausländerthematik ist die schweizerischpolnische Parallelstudie eine der umfassendsten Studien überhaupt. Die Daten sind noch nicht fertig ausgewertet. Was man aber schon sagen kann: Wie bei den Erwachsenen ist auch bei Kindern eine konservative oder eine offene, tolerante Grundhaltung erkennbar. Und diese Werte sind für die Beziehungen zwischen Kindern verschiedener Hautfarbe oder Religion genauso relevant wie bei Erwachsenen.

Zudem – so hat es die Studie bisher zumindest gezeigt – sind Kinder grosse «Influencer»: Sie lassen sich von Freunden beeinflussen und beeinflussen wiederum ihre Freunde. Was Schüler und Schülerinnen in ihren Netzwerken – ihrem Freundeskreis also – lernten, sei für ihr künftiges Verhalten gegenüber Migranten zentral, sagt Eldad Davidov.

Das Fazit des Soziologen: «Sind Werte einmal geformt, sind sie schwer zu ändern. Wenn, dann muss man das früh angehen. Wer Universalismus lernen und Ausländer verstehen will, muss es schon in der Schule tun.» Eldad Davidov weiss, wovon er spricht. Er ist in Israel aufgewachsen, einem Land also, dessen Einwohner mehrheitlich Immigrantinnen und Immigranten sind.

Weiterführende Informationen