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Historische Mediologie

Fake-News und fragwürdige Reliquien

Fake-News sind kein neues Phänomen. Die Beglaubigung von Information war schon im Mittelalter ein Problem, sagt Christian Kiening. Der Germanist hat an der UZH ein Zentrum für Historische Mediologie gegründet – und er schaut mit historisch geschultem Blick auf die heutige Medienwelt.
Interview: Roger Nickl
Kiening
«Fake News sind essenziell mit Medien verbunden», sagt der Germanist Christian Kiening. (Bild: Roger Nickl)

 

Christian Kiening, Sie haben sich als Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Mediality» zwölf Jahre lange mit Medien in der Vergangenheit beschäftigt. Wie nehmen Sie die aktuelle Mediensituation wahr?

Christian Kiening: Es hat eine enorme Beschleunigung stattgefunden. Die Entwicklungs-, aber auch die Verfallszeit von Medien ist im Laufe der Geschichte immer kürzer geworden. Das Pergament beispielsweise war noch ein unglaublich langlebiges Material. Heute wissen wir gar nicht, ob die Aufnahme- und Aufzeichnungsmedien, die wir verwenden, in zwei Jahren überhaupt noch funktionieren werden. 

Was sind die Folgen dieser medialen Beschleunigung?

Kiening: Mit der Beschleunigung ist eine grosse Unsicherheit verbunden, was die Kontrolle angeht. Im Mittelalter lag die Kontrolle über das, was gesagt oder gedacht werden konnte, in den Händen weniger – etwa den Mönchen in den Skriptorien der Klöster. Seither sind die Medien immer demokratischer, aber auch schwerer einschätzbar geworden. Heute weiss man oft nicht genau, woher Informationen kommen und wer sie in die Welt gesetzt hat. Die Beglaubigung, die Authentisierung ist unsicherer geworden. Mit dieser Unsicherheit kann man verschieden umgehen: Man kann sie als Ausdruck eines Zeitalters neuer Möglichkeiten bejahen oder als Problem des Substanzverlustes begreifen – etwa, wenn es in der Politik oder in der Ethik um Fragen der Verlässlichkeit geht. An den politischen Diskussionen sehen wir, wie unser Begriff von Fakten in Bewegung gekommen ist. 

Sind Fake News ein neues Phänomen?

Kiening: Nein, dieses Problem gab es immer schon, wenn auch nicht im heutigen Ausmass. Es ist essenziell mit Medien verbunden. Nehmen wir das Beispiel von Reliquien im Mittelalter, die ja auch Medien sind. Der Heiligenkult war damals sehr wichtig. Er basierte auf der Existenz körperlicher Überreste von Heiligen. Von Knöchelchen konnte man aber nur schwer bestimmen, von wem sie stammten. Deshalb brauchte es Authentisierungen – kleine Zettel, die angaben, von welchem Heiligen ein Überrest kommt. Diese Zettel hiessen tatsächlich Authentiken und wurden schon früh in Zweifel gezogen. So sagten kritische Stimmen im 12. Jahrhundert, wenn man alle vermeintlichen Splitter vom Kreuz Jesu zusammennähme, käme man wohl auf zehn heilige Kreuze. 

Das heisst, Medien und Fake-News gehörten immer schon zusammen?

Kiening: Das Glaubwürdigkeitsproblem ist jedem Medium inhärent. Ein Medium braucht immer andere Medien, um sich zu authentisieren. Jede Einführung eines neuen Mediums – im 19. Jahrhundert etwa die Fotografie – warf die Frage der Authentisierung wieder von neuem auf. 

Inwiefern kann der historische geschulte Blick die Analyse heutiger Medien schärfen? 

Kiening: Oft vergessen die Medienschaffenden, aber auch die Medienwissenschaftler die lange Tradition und Vergangenheit, in der sie stehen. Die Medienschaffenden, weil sie vor allem Aktuelles sichtbar und präsent machen wollen. Die Medienwissenschaftler, weil sie sich auf die aktuellen Medien konzentrieren. Die Beschäftigung mit der Geschichte zeigt, dass nicht immer alles so neu ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Bestimmte Entwicklungen haben oft lange Vorläufer. Aus der Vergangenheit können wir zudem oft sehr viel klarer lernen, wie Medien funktionieren als in unserer Zeit der neuen Unübersichtlichkeit. 

Können Sie ein Beispiel geben?

Kiening: Wir betrachten es als eine neuere Entwicklung, dass unsere Kultur sehr stark visuell geprägt ist – dass wir viel stärker auf Bilder reagieren als auf Texte. Man spricht deshalb davon, dass das Gutenberg-Zeitalter an sein Ende gekommen sei. Aber schon die Kultur des Mittelalters war nicht rein schriftbezogen, sondern im Gegenteil sehr bildhaft. Handschriften waren mit Bildern versehen, die Kirchenwände auch. Die Menschen waren permanent von Bildern umgeben. Das Konkurrenzverhältnis von Bild und Schrift wurde erst später konstruiert. Der historisch geschärfte Blick entdeckt so keine geradlinige Entwicklung von einem Medium zum anderen, sondern Wellenbewegungen, Dominanzveränderungen, Komplexitätssteigerungen. 

Im Anschluss an den Nationalen Forschungsschwerpunkt «Mediality» haben Sie nun mit Kollegen verschiedener Fächer zusammen das Zentrum für Historische Mediologie an der UZH gegründet. Worum geht es? 

Kiening: Es ist nicht schlecht, dass wissenschaftliche Grossprojekte wie ein Nationaler Forschungsschwerpunkt ihre beschränkte Dauer haben. Wichtig ist aber, dass ihre Impulse nicht verpuffen. Das interdisziplinär organisierte Zentrum, das von einem international besetzten Board begleitet wird, gibt die Möglichkeit, thematisch für Kontinuität zu sorgen. Zugleich kann man neue Wege gehen und neue Themen ins Auge fassen. Die finanzielle Situation ist allerdings nicht mehr vergleichbar, entsprechend müssen wir jetzt kleinere Brötchen backen. 

Was ist konkret geplant?

Kiening: Geplant sind regelmässige Vorträge, Workshops und Tagungen. Es wird drittmittelgeförderte Forschungsprojekte geben, die sich mit bestimmten Themen – etwa Medialität und Zeitlichkeit – beschäftigen. Auch werden öffentlichkeitswirksame Aktivitäten stattfinden – etwa die Weiterentwicklung des Podcasts «Stadtwandelung». Und wir haben den Blog«medioscope»lanciert.

Worum geht es in diesem Blog?

Kiening: Wir wollen aus historisch informierter Perspektive mediale Gegenwartsphänomene beleuchten und an ein breiteres Publikum vermitteln. Das können Phänomene des Alltags sein – Graffitis auf WC-Türen oder Aufschriften auf Oblaten – ebenso wie Fragen der Performanz (beispielsweise Papstinszenierungen), der Ästhetik oder der Anthropologie (etwa das Thema «Schmerz als Geschichtsmedium»), der Museumskultur, des Films oder Theaters. Zum Beispiel, wenn der Faust-Stoff am Opernhaus als Ballett reinszeniert wird. Das ist eine Reflexion wert. Aktuelle Phänomene im historischen Kontext zu betrachten ermöglicht es, das spezifische Knowhow geistes- und kulturwissenschaftlicher Fächer zu nutzen.