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«Zwetschgenkrieg» gegen die Juden

Im «Zwetschgenkrieg» wurden die jüdischen Bewohner von Endingen und Lengnau im Jahre 1802 Opfer eines Pogroms. Der Historiker und Religionswissenschaftler Martin Bürgin untersucht in seiner Dissertation, wie es dazu kam. Unterstützt wird er vom Forschungskredit der UZH.
Adrian Ritter
Martin Bürgin
Martin Bürgin untersucht in seiner Dissertation den «Zwetschenkrieg» von 1802 gegen die jüdischen Bewohner von Endingen und Lengnau. Im Bild: Auf dem Israelitischen Friedhof von Lengnau.

Am Morgen des 21. September 1802 marschierten sie los. Rund 800 Bauern, Handwerker und auch einige Patrizier machten sich aus den umliegenden Tälern auf den Weg nach Endingen und Lengnau, im heutigen Kanton Aargau. Sie waren bewaffnet mit Heugabel und Dreschflegel, die Patrizier ritten hoch zu Ross.

Der Angriff galt der jüdischen Bevölkerung in Endingen und Lengnau. Es waren die einzigen Gemeinden der damaligen Eidgenossenschaft, in denen Juden überhaupt wohnen durften. Sie machten neben den Katholiken rund 30 bis 50 Prozent der etwa 1000-köpfigen Bevölkerung der beiden Gemeinden aus. Dass es beim Überfall keine Toten gab, ist fast ein Wunder. Neben vielen Verletzten war vor allem Sachschaden zu beklagen: Die Angreifer plünderten und zerstörten, was ihnen in die Hände kam.

Verhasste Republik

Aber was waren die Gründe für diesen «Zwetschgenkrieg» – benannt vermutlich nach den Zwetschgen, die Ende September geerntet wurden? Dieser Frage geht der Historiker und Religionswissenschaftler Martin Bürgin im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Zürich nach. Er stellte bald fest, dass der Zwetschgenkrieg kaum erforscht ist. Erwähnt wird er vorwiegend im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die helvetische Republik.

In der Tat fand der Zwetschenkrieg am letzten Tag einer Woche von Aufständen konservativer Kreise gegen die Helvetik statt, dem so genannten «Stecklikrieg». Die gängige Deutung des Pogroms in Endingen und Lengnau lautet in der Geschichtsschreibung denn auch: Die Helvetische Republik war verhasst und dies entlud sich in einem spontanen Überfall auf die Juden, die als Anhänger der neuen, liberalen Ordnung galten.

Vielfalt der Motive

Martin Bürgin zeigt in seiner Forschung, dass dieses Bild zu kurz greift. Das belegen unter anderem die Protokolle des Ausschusses, der das Progrom untersuchte. In den Protokollen kommen die Angreifer zu Wort, die sich für ihr Tun zu rechtfertigen versuchen. «Dabei fällt vor allem auf, dass ganz unterschiedliche Begründungen für den Angriff zu finden sind», sagt Bürgin. Die einen Angreifer bezeichneten die Juden als Profiteure des Ancien Regime, also der politischen Ordnung vor der Helvetik. Andere wiederum sahen die Juden als Drahtzieher oder Profiteure ebendieser Helvetik.

Drittens stiess Bürgin auf ökonomische Gründe für das Progrom: Einige Angreifer hatten Schulden bei den Juden von Endingen und Lengnau, die vor allem als Pferde- und Viehhändler tätig waren. Die Schuldner nutzten den Zwetschgenkrieg, um die Schuldscheine zu vernichten.

Für Martin Bürgin ist klar: «Der Zwetschgenkrieg war keine spontane Aktion der Aufständischen, die nach einer Woche des Protests gegen die Helvetik in ihre Dörfer zurückkehrten. Es war ein geplanter Überfall.»  Für diese Sichtweise spreche auch, dass die jüdische Bevölkerung über den bevorstehenden Angriff informiert war – sie hatten es von einem Boten gehört. Die Männer brachten deshalb ihre Frauen und Kinder über den Rhein zu Verwandten in Sicherheit, kehrten selber aber in ihre Dörfer zurück, um Hab und Gut zu verteidigen.

Weit weg von Gleichberechtigung

Wie sah die Situation der jüdischen Bevölkerung zu jener Zeit tatsächlich aus? «Von den Juden als Profiteuren des Ancien Regime oder der Helvetik zu sprechen, ist absurd», sagt Martin Bürgin. Die jüdische Bevölkerung war in beiden Regimes schlechter gestellt als die restliche Bevölkerung – etwa durch spezielle Zölle, Steuern oder einer eingeschränkten Berufswahl. Die Helvetik war zwar von den Idealen der französischen Aufklärung geprägt und verbesserte die rechtliche Stellung der Juden. «Von einer Gleichberechtigung mit den Angehörigen anderer Religionen kann aber noch lange nicht gesprochen werden», so Bürgin.

So verwundert es auch nicht, dass die Angreifer des Zwetschgenkrieges nicht bestraft wurden. Die Juden getrauten sich vor dem Ausschuss kaum, Aussagen zu machen. Zu gross war ihre Unsicherheit, ob sie sich nun sicher fühlen können und wer in Zukunft die politische Macht haben wird. Sie sollten Recht behalten, die Lage war äusserst instabil. Ein Jahr später war die Helvetik am Ende und die Gleichstellung der Juden bis auf weiteres vertagt.

Erinnerungskulturen

Für seine Forschung hat Martin Bürgin in den vergangenen drei Jahren alle relevanten Archive gesichtet und das Material zum Zwetschgenkrieg zusammengetragen. Das Quellenmaterial hat sich dabei als viel umfangreicher als erwartet erwiesen.

Bürgin will in seiner Dissertation nicht nur ein genaues Bild des Pogroms zeichnen, sondern auch allgemeinen Fragen nachgehen: Wie war die Stellung der Juden in Politik, Wirtschaft und Religion in der Zeit von Ancien Regime und Helvetik? Wie äusserte sich die damals verbreitete Judenfeindlichkeit etwa in der Kunst und in Schulbüchern? Und: Wie erinnerte man sich später an den Zwetschgenkrieg – in der Geschichtsschreibung, Belletristik, aber auch in der Erinnerungskultur der Juden?

In seiner Forschung wurde Martin Bürgin während zwei Jahren vom Forschungskredit der UZH unterstützt. Bis 2019 kann er jetzt mit Geldern des Schweizerischen Nationalfonds am Thema weiterforschen. Sein Wissen wird nicht nur in Publikationen einfliessen, sondern auch ins Projekt Doppeltür des Kantons Aargau. Damit soll die Geschichte der Juden in Endingen und Lengnau sichtbarer gemacht werden.