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Ausstellung

Die nachgespielte Revolution

Ein weltbekanntes Foto dokumentiert den Sturm auf den Petersburger Winterpalast 1917. Doch das Foto ist nicht echt, es entstammt einer Theateraufführung. Eine neue Ausstellung lüftet das Geheimnis um Original und Fake.
Marita Fuchs
Cover
«Sturm auf den Winterpalast»: Ein legendäres Foto, das sich als Fälschung herausstellte.

November 1917. Rotgardisten stürmen den Winterpalast, entschlossen zum Kampf. Sie kennen nur ein Ziel: Der ehemalige Zarenpalast in St. Petersburg muss eingenommen, das Interregnum der Regierung Kerenskij muss beendet werden. Lenin muss an die Macht. Ein Foto belegt diesen ausserordentlichen Moment der Geschichte. In zahlreichen Schulbüchern, in historischen Dokumenten oder in Bildagenturen taucht es auf. Die Bildagentur «Getty Images» bietet auf ihrer Website unter dem Stichwort «Storming of the Winter Palace» das Foto zum Kauf an.

Kaum ein anderes Foto wurde zum Sinnbild der Oktoberrevolution. Doch was lange nicht bekannt war, niemand hat beim Sturm auf den Winterpalast fotografiert. Und auch der Sturm war kein Sturm. Als in der Nacht zum 8. November einige Rotgardisten und Matrosen durch das Portal des Winterpalais marschierten, fielen zwar einzelne Schüsse, doch die Minister im Kabinett warteten ergeben auf ihre Verhaftung.

10.000 Schauspieler, 60.000 Zuschauer

Und woher stammt dann das Foto? Es wurde bei einer Theateraufführung aufgenommen. Der Sturm auf den Winterpalast wurde 1920, drei Jahre nach dem eigentlichen Ereignis, vom Theaterregisseur Nikolaj Evreinov und einem Regiekollektiv nachgestellt, und zwar mit 10.000 Schauspielern. An dem Spektakel sollen 60.000 bis 150.000 Zuschauer – trotz schlechten Wetters – teilgenommen haben. Die Zahlen sind vermutlich grosszügig geschätzt, denn einige Zeitzeugen berichten auch, dass es mehr Schauspieler als Zuschauer gewesen sein sollen.

Wie kam es dann dazu, dass das Foto jahrzehntelang als historisch glaubwürdiges Dokument verbreitet wurde? «Das geschah ganz bewusst», sagt Sylvia Sasse, Professorin für Slavistik an der UZH. «Die sowjetische Führung benötigte ein Bild, das analog zum Sturm auf die Bastille zeigen sollte, wie bedeutend der Sturm auf den Winterpalast war.» Es sollte dokumentiert werden, warum und wie erfolgreich die Revolution war. Es ging um Politik mit einem gefälschten Bild.

Fälscher im Dienst des Regimes

Das Foto taucht zum ersten Mal 1922 in einem Buch über die Bolschewiki auf. Bewusst wurde es im Laufe der Zeit ausschliesslich in historischen Zusammenhängen gezeigt, nie in Dokumentationen zur Theateraufführung. Und es wurde immer wieder retuschiert. Anfänglich sah man noch den Regieturm und einige Zuschauer, diese wurden nach und nach liederlich herausretuschiert. Man kann die retuschierten Stellen noch immer gut erkennen. «Etwas wurde aber immer vergessen», sagt Sasse. «Wenn man genau hinschaut, ist in einem Fenster ein Sowjetstern zu sehen.» Vor dem Sturm kann dieses Symbol der Revolution ja dort noch nicht gehangen haben. 

Sturm auf den Winterpalast als Kunstaktion

Sylvia Sasse hat nun zusammen mit Kuratorin Inke Arns – im Rahmen von 100 Jahre russische Revolution – eine Ausstellung zu diesem Thema konzipiert und kuratiert. «Es schien mir reizvoll, anhand eines einzigen Fotos über die Oktoberrevolution zu erzählen und darüber, welche Funktion das Theater hatte. Das Theater inszeniert drei Jahre später eine gültige Interpretation der Revolution.» Den Auftrag zur Inszenierung des Sturms auf den Winterpalast bekam Nikolaj Evreinov, ein Regisseur, der durch seine Theorien von der Theatralisierung des Lebens im vorrevolutionären Russland bekannt geworden, selbst aber kein überzeugter Bolschewik war und später nach Frankreich emigrierte. Er schuf allerdings mit der inszenierten Nachstellung des Sturms auf den Winterpalast eine Kunstaktion, die – mit heutigen Massstäben gemessen – modern erscheint.

In über zweijähriger Vorarbeit hat Sasse Aufnahmen des Nachspiels von 1920 (zwei Filme, ca. 70 Fotografien) zusammengetragen sowie die Dokumentwerdung des Fotos in der sowjetischen Geschichtsschreibung, in Bildbänden, Schulbüchern und auf Plakaten dokumentiert. Zudem werden Arbeiten zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen gezeigt, die die Thematik kommentieren.

Die Finanzierung des Projekts sei nur möglich gewesen durch die Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF), sagt Sasse, die von dem SNF-Förderinstrument «Agora» unterstützt wurde. Agora fördert den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Es unterstützt Forschende, die sich darum bemühen, die Resultate ihrer aktuellen Forschung einem Laienpublikum zu vermitteln. Das wird mit der Ausstellung in der Gessnerallee, die am 23. September ihre Pforten öffnet, sicherlich gelingen.