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Talk im Turm

Im Kreuzfeuer

Kriegerische Gewalt reisst Wunden, die oft erst nach Generationen heilen. Im Talk im Turm diskutierten die Historikerin Svenja Goltermann und der Psychiater Matthis Schick über den Umgang mit Traumatisierten und die Politisierung des Opferbegriffs.
David Werner
Psychiater Matthis Schick und die Historikerin Svenja Goltermann sprachen über die Folgen von Krieg und Terror. (Video: MELS)

Kriegerische Gewalt ist medial allgegenwärtig, mental aber ist sie weit weg – zumindest aus privilegierter Schweizer Perspektive. Was Kriegsgewalt für die beteiligten Soldaten und die betroffene Zivilbevölkerung bedeutet, kann hierzulande nur eine Minderheit aus eigener Erfahrung nachvollziehen.

Matthis Schick erlebt fast täglich, was Krieg, Vertreibung und Gewalt anrichten. Der Psychiater leitet das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. Hier werden jährlich rund 150 traumatisierte Flüchtlinge psychisch behandelt und sozial betreut.

Rund 40 Prozent von ihnen sind türkische Kurden. Viele der Patientinnen und Patienten stammen aber auch aus Sri Lanka, Eritrea, Afghanistan und Irak. Ein Grossteil von ihnen wurde gefoltert.

Spielball des Schicksals

Eindrücklich schilderte Schick im Talk im Turm, wie vielfältig die Symptome von Gewaltopfern sein können: Depressionen gehören dazu, aber auch chronische Schmerzen. Traumatisierte Menschen können kein Vertrauen mehr zu anderen Menschen fassen, keine stabilen Beziehungen mehr eingehen, sie leiden unter Kontrollverlust, fühlen sich als Spielball des Schicksals.

In der Therapie, so erklärte Schick, versuche er, Vertrauen wieder aufzubauen – zuerst einmal im Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Dies sei die Voraussetzung dafür, über die traumatische Vergangenheit zu sprechen. Am schwierigsten sei dies, wenn Schuld-, Ekel- und Schamgefühle mit im Spiel seien, was bei Folteropfern besonders häufig der Fall sei.

Diagnosemuster und individuelles Leid

Es ist noch nicht lange her, dass traumatisch bedingte Leiden als solche anerkannt werden. Ein Meilenstein war, als in den USA 1980 in der Folge des Vietamkriegs die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung – englisch Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) – als Krankheitsbild anerkannt wurde. Allerdings, so relativierte Schick, sei dieses Diagnoseschema sehr reduktiv. Die Komplexität und Vielfalt individueller Leiderfahrungen sei damit nicht einzufangen.

Traumatisierte vollständig zu heilen sei kaum möglich, so Schicks nüchterne Bilanz. Therapien könnten aber bewirken, dass die Betroffenen sich aus ihrer Starre lösen und Entwicklungen in Gang gesetzt werden.

Für Gott und Vaterland

Das von Thomas Gull und Roger Nickl moderierte Podiumsgespräch zeigte, dass die Art und Weise, wie die Folgen von Gewalt wahrgenommen, eingeschätzt und bewertet werden, geschichtlich überaus wandelbar ist. So war es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein noch unüblich, Kriegsversehrte als «Opfer» des Krieges zu bezeichnen, erklärte die Historikerin Svenja Goltermann. Wenn in früherer Zeit in Zusammenhang mit Krieg und Gewalt von Opfern die Rede war, dann nicht in einem passiven, sondern in einem aktiven, heroischen Sinn: Wer in einer Schlacht fiel oder zu Schaden kam, der brachte selbst ein Opfer dar. Er gab sein Leben oder seine Gesundheit preis und diente damit Gott, König oder dem Vaterland, also einem höheren Zweck.

Umkämpfter Opferbegriff

Erst der Ausbau staatlicher Sozialleistungen, die Entwicklung der Medizin und der Wandel des Völkerrechts führten im Laufe der letzten 150 Jahren dazu, dass sich der heute geläufige Opferbegriff etablieren konnte: Opfer ist im modernen Verständnis, wer zu Unrecht Leid erfahren hat.

Doch damit ist die Begriffsgeschichte nicht am Ende. Der Opferbegriff, so Goltermann, sei heute politisch umkämpft und damit alles andere als fest gefügt. Opfer-Zuschreibungen seien stets interessengelenkt. Hilfs- oder Entschädigungsleistungen, aber auch Aufmerksamkeit und Zuwendung seien oft daran geknüpft, ob jemand für sich den Status eines Opfers reklamieren könne.

«Menschen müssen sich als Opfer deklarieren, damit man ihnen zuhört», stellte die Historikerin fest. Gleichzeitig widerstrebe es vielen, als «Opfer» wahrgenommen zu werden. Wer als Opfer gilt, erscheint wehrlos und schwach, mitunter sogar als wehleidig. Goltermann riet daher, weniger von «Opfern» als von «Geschädigten» zu sprechen.