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Volksentscheide wie das Minarettverbot oder die Ausschaffungsinitiative haben in den vergangenen Jahren in der Schweiz für juristisches und politisches Kopfzerbrechen gesorgt: Lassen sich diese Entscheide menschenrechtskonform umsetzen? Die Frage nach der Gleichheit vor dem Gesetz stellt sich auch bei anderen Aspekten: Männer müssen in der Schweiz Militärdienst leisten, Frauen nicht. Heterosexuelle Paare dürfen Kinder adoptieren, gleichgeschlechtliche Paare nicht. Ist das zulässig, wenn die Schweizerische Bundesverfassung doch festschreibt, dass niemand diskriminiert werden darf – unter anderem aufgrund seines Geschlechts, der Lebensform oder der religiösen Überzeugung?
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie auszuloten, war Thema der 7. Aarauer Demokratietage von vergangener Woche. Andreas Glaser, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der UZH, zeigte in seinem Referat auf, dass das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung nicht absolut zu verstehen sei. Eine Ungleichbehandlung aufgrund der in der Bundesverfassung erwähnten Merkmale sei erlaubt, wenn erhebliche sachliche und vernünftige Gründe vorliegen. Wann solche vorliegen, beurteilen die demokratischen Institutionen bisweilen höchst unterschiedlich, wie Glaser am Beispiel des Burka-Verbots aufzeigte.
Eine Volksinitiative, welche im Kanton Basel-Stadt das Tragen einer Burka verbieten wollte, wurde für ungültig erklärt. Das kantonale Verfassungsgericht sah darin eine Diskriminierung. Der Grosse Rat des Kantons Tessin hingegen hatte eine gleichlautende Initiative zur Abstimmung gebracht – sie wurde 2013 in der Volksabstimmung angenommen.
Die Überraschung war gross, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juli 2014 über ein Gesetz in Frankreich zu entscheiden hatte, welches die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum unter Strafe stellte. Der Gerichtshof erkannte darin keinen Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EKMR): Eine Verschleierung würde die soziale Interaktion und das Zusammenleben zu stark behindern, so die Argumentation. Eine erneute Volksinitiative im Kanton Basel-Stadt könnte somit nicht mehr für ungültig erklärt werden, sagte Andreas Glaser.
Verschiedene Institutionen mit unterschiedlichen Interpretationen machen das demokratische System bisweilen unübersichtlich. Trotzdem erachtet Glaser das institutionelle Zusammenspiel in der Schweizerischen Demokratie als grundsätzlich sehr gut: Die Stimmberechtigten und das Parlament verhielten sich grundsätzlich verantwortungsbewusst und das Bundesgericht stehe nicht im Verdacht, politisch zu agieren. Dieses Gleichgewicht beizubehalten sei sinnvoller sein als etwa der Vorschlag, ein Verfassungsgericht einzuführen.
Hans-Ueli Vogt, UZH-Professor für Privat- und Wirtschaftsrecht und Zürcher SVP-Kantonsrat, störte sich allerdings beim anschliessenden Podiumsgespräch daran, dass Volksentscheide bisweilen mit Verweis auf völkerrechtliche Verpflichtungen nicht umgesetzt würden. Seine Partei will deshalb per Volksinitiative Landesrecht vor Völkerrecht stellen. Wohlstand, Bildung und der Zugang zu sachlicher Information seien in der Schweiz als Grundvoraussetzungen erfüllt, um über jegliche Themen an der Urne abstimmen lassen zu können: «Das Volk denkt differenzierter und langfristiger als das Parlament.»
Für Samantha Besson, Professorin für internationales öffentliches Recht an der Universität Fribourg, geht die Forderung der SVP zu weit und zeichnet ein zu negatives Bild des Völkerrechts. Dieses schütze die Souveränität gerade von Kleinstaaten wie der Schweiz. Eine allfällige Kündigung der EMRK könnte in die Isolation führen und wäre für die Schweiz sehr nachteilhaft.
Wolf Linder, emeritierte Professor für Politikwissenschaft, verwies auf grundsätzlichere Aspekte, welche die politische Chancengleichheit mindern. Wer sich vor Gericht gegen eine Diskriminierung wehren wolle, brauche Wissen und finanzielle Ressourcen – diese aber seien je nach sozialer Schicht ungleich verfügbar. Ungleich mit Ressourcen ausgestattet seien auch die politischen Parteien. Gemäss politikwissenschaftlichen Studien seien Abstimmungsergebnisse nicht grundsätzlich kaufbar. Bei knappen Entscheidungen könne aber ein grösseres Werbebudget durchaus ausschlaggebend sein.
Insgesamt waren sich die Podiumsteilnehmenden in ihrer Einschätzung aber überraschend einig: Sorgen um die direkte Demokratie in der Schweiz müsse man sich nicht machen, die Mitbestimmung an der Urne auch bei Sachfragen sei eine grosse Chance.
Nach der Eröffnung mit Referat und Podiumsgespräch fanden am zweiten Tag der 7. Aarauer Demokratietage drei wissenschaftliche Panels statt: «Demokratie und soziale Gleichheit», «Das Bildungssystem als `Moderator sozialer Ungleichheit`» und «Demokratische Gesetzgebung im Gleichheitsdilemma». Die Aarauer Demokratietage werden jährlich vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) organisiert, einem Forschungszentrum zu Fragen der Demokratie. Zur Trägerschaft des ZDA gehört auch die Universität Zürich.