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Ringvorlesung

Arbeit ja – Ausbeutung nein

Kinderarbeit ist kriminell, moralisch verwerflich und gehört abgeschafft. Das ist das gängige Urteil aus europäischer Sicht. Dabei ist vielen Kindern in Afrika, Asien und Lateinamerika mit einem generellen Verbot nicht geholfen. Der Ethnologe Werner Egli zeigte im Rahmen der Ringvorlesung «Arbeit», warum man Kinderarbeit nicht kriminalisieren, sondern tolerieren sollte – wenn gewisse Rahmenbedingungen eingehalten werden.
Alice Werner
Kinderarbeit auf Haiti: Viele MInderjährige arbeiten als Schuhputzer auf der Strasse.

Mit kaum mehr als lahmen Appellen endete Anfang Oktober die von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ausgerichtete «Dritte Globale Konferenz zu Kinderarbeit». Vertreter von 193 Regierungen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Hochschulen hatten sich in Brasilia getroffen, um über Herausforderungen und Fortschritte im Kampf gegen Kinderarbeit zu diskutieren und neue, grenzübergreifende Massnahmen zur Verbesserung des Kinderwohls zu vereinbaren.

Doch das Ergebnis der Konferenz enttäuscht – wieder einmal scheint der politische Wille, der Impuls zum Handeln, zu fehlen. So konnte man sich am Schluss auf keine neuen Zielsetzungen zum Schutz von Minderjährigen in der Arbeitswelt einigen.

Erneut bekräftigt wurde lediglich der vor drei Jahren beschlossene Vorsatz, bis 2016 die schlimmsten Formen der Kinderarbeit abzuschaffen. Demnach soll künftig kein Kind mehr versklavt, der Prostitution ausgesetzt, im Drogenhandel ausgebeutet und zu Kriegszwecken zwangsrekrutiert werden, oder Arbeit verrichten, die seine Gesundheit, Sicherheit und moralische Entwicklung gefährdet.

Ein löbliches, aber kein sehr realistisches Ziel für die nahe Zukunft – das hatte der Direktor der ILO, Guy Ruder, bereits zum Auftakt des Treffens zugegeben. Die Armut weltweit sei schlicht zu gross. Ein Blick auf die Statistiken gibt seiner pessimistischen Sicht Recht: Weltweit gehen immer noch 85 Millionen Jungen und Mädchen aus ökonomischem Zwang einer sogenannten «worst form of child labour» nach.

Ist Kinderarbeit ein notwendiges Übel?

Was soll man nun von diesem Ergebnis der Weltkonferenz halten? Wie schlimm steht es wirklich um die arbeitenden Kinder? Ist Kinderarbeit etwa ein notwendiges Übel, das man hinnehmen muss? Was hätte ihre strikte Abschaffung für unmittelbare Folgen für die Betroffenen? Und: Welche alternativen Ansätze zum Umgang mit diesem Armuts-Phänomen sind eventuell vernünftiger und lebensnaher? Grosse Fragen für eine einzige Vorlesung, grosse Fragen zu einem emotional belasteten Thema.

Werner Egli, Titularprofessor am Ethnologischen Seminar, eröffnete seinen Vortrag mit dem Titel «Kinderarbeit – Beurteilung und Verurteilung in kulturvergleichender Perspektive» daher mit einem kommentierten Überblick über aktuelle Zahlen und Fakten aus dem kürzlich von der ILO veröffentlichten Bericht «Making Progress against Child Labour – Global estimates and trends 2000 – 2012».

Die positive Nachricht lautet: Die Zahl der Kinder, die arbeiten müssen, ist im entsprechenden Zeitraum von etwa 246 Millionen auf rund 168 Millionen zurückgegangen, am stärksten im asiatischen Raum – wobei als Obergrenze für Kinderarbeit gemäss ILO 15 Jahre gilt.

Zwischen 2002 und 2012 wurde die Zahl der Minderjährigen, die nicht zur Schule gehen, sondern arbeiten müssen, weltweit um 30 Prozent gesenkt. 59 Prozent aller arbeitenden Kinder sind in der Landwirtschaft tätig, die meisten anderen im Dienstleistungssektor und deutlich weniger als 10 Prozent in Industriebetrieben.

Werner Egli, Titularprofessor am Ethnologischen Seminar: «In den USA gibt es 6-Jährige, die in der Landwirtschaft arbeiten.»

Egli, der sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Ethnologie der Kindheit beschäftigt und in Nepal und Südasien Forschungsaufenthalte verbrachte, rät, die von der ILO vorgelegten Zahlen «mit Vorsicht zu geniessen». Die Zahlen könnten auch höher liegen. Beispielsweise sind Europa und die USA in diesen Statistiken ausgeklammert, «dabei gibt es in Nordamerika 6-Jährige, die in der Landwirtschaft arbeiten». Ausserdem nimmt die Kinderarbeit in den osteuropäischen Ländern und, seit der globalen Finanzkrise, auch in südeuropäischen Ländern tendenziell zu.

Genügend Anlass zum Handeln

Über Statistiken lässt sich streiten, aber wohl kaum über die Tatsache, dass bei diesem brisanten Thema dringend Anlass zum Handeln besteht. Kinderarbeit ist vor allem und überall dort auf der Welt zu finden, wo Hunger und Armut herrschen. Entsprechend müssen gemäss Egli Sozialprogramme, Armutsbekämpfung und die Umverteilung des Einkommens im Land die ersten Schritte in Richtung Eliminierung der Kinderarbeit sein.

Es wird vor allem Zeit kosten, das Realeinkommen jener sozialer Schichten zu steigern, die auf das Zusatzeinkommen ihrer Jüngsten angewiesen sind. Und bis es soweit ist? Sollte man etwa nach Lösungen suchen, die akzeptable Formen von Kinderarbeit unter gewissen Rahmenbedingungen unterstützen?

Ja, meint Werner Egli und verweist auf die vielen Interessensvertretungen und Kindergewerkschaften, in denen sich arbeitende Jungen und Mädchen aktiv und kollektiv für die eigenen Rechte einsetzen – eben auch für ihr Recht auf Arbeit. Gut vernetzte Strukturen dieser Art seien in den letzten Jahren in vielen Staaten des Südens entstanden. «Die Stimmen der Kinder müssen gehört und respektiert werden», ist der Zürcher Ethnologe überzeugt.

Zustimmung erhalten die Kinderorganisationen auch von anderen Wissenschaftlern, und das weltweit. «In der neueren Kindheitsforschung», berichtet Egli, «ist das Kind nicht länger Opfer, sondern eigenständiger, kompetenter Akteur, Experte seiner Lebenswelt.» Dieser subjektorientierte Ansatz decke sich im Übrigen mit der Forderung der UN-Kinderrechtskonvention nach Entscheidungs-, Selbstbestimmungs- und Partizipations-Rechten für Kinder.

Arbeit kann Kinder stark und unabhängig machen

Aus eigenen Feldforschungen weiss Werner Egli, dass Arbeit nicht zwingend und ausschliesslich schädliche Auswirkungen auf Kinder haben muss. Kinderarbeit kann eine kulturelle Erscheinung sein und muss nicht notwendigerweise negativen Charakter besitzen. In einigen indianischen Kulturen beispielsweise existiert der Begriff «Arbeit» gar nicht.

Egli erzählt von überraschend positiven Einblicken in den Alltag von Sunuwar-Kindern in Ost-Nepal. Er sei beeindruckt davon gewesen, was diese Kinder, die oft schon als Dreijährige erste, aber ihrem Alter angemessene Pflichten im Haushalt übernehmen, an Wissen und Fähigkeiten aufwiesen. Wie weit sie in ihrer psychologischen Entwicklung gewesen seien. Und wie stolz sie ihre eigene Arbeitsleistung gemacht habe. Ihnen sei deutlich bewusst gewesen, dass sie innerhalb ihrer Familie, ja innerhalb der Dorfgemeinschaft eine wichtige Rolle spielten. Das habe ihr Selbstbewusstsein enorm gestärkt.

Als Fazit aus Werner Eglis Vortrag kann man folgende Aussagen mitnehmen: Arbeitenden Kindern ist mit einem generellen Kinderarbeitsverbot wenig geholfen, wenn ihre Tätigkeiten existenziell für sie selbst und ihre Familien sind. Darüber hinaus kann sich Arbeit positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirken, zu Erfolg, Freiheit, sozialer Anerkennung und Integration, gestärkter Selbstachtung, Durchsetzungsvermögen und Lebenszufriedenheit führen und das Erlernen sogenannter life-skills fördern – immer vorausgesetzt, die Rechte auf psychische und physische Gesundheit, Bildung und Spiel werden gewahrt.

Nicht karitativer Schutz ist es also, den arbeitende Kinder dringend benötigen, sondern mehr Partizipation und Mitbestimmung am eigenen Schicksal. «Kindern», schliesst Egli seinen Vortrag, «sollte insbesondere von Seiten der ILO ein Mitspracherecht eingeräumt werden. Leider wurde dies vorvergangene Woche in Brasilia erneut verpasst.»