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1835, Universität Zürich. Im Lehrsaal des Botanischen Gartens hält der frisch gebackene Professor Oswald Heer eine Vorlesung über Botanik und Insektenkunde. Mit seinen 26 Jahren ist er nicht älter als viele seiner Studierenden. Er ist beliebt. Vor allem seine allwöchentlichen Exkursionen werden geschätzt: so geht es an den Katzensee, auf den Üetliberg, ins Hörnligebiet, auf den Irchel oder zur Pfahlbauer-Fundstelle am Pfäffikersee.
Höhepunkt für die Studierenden sind jedoch die in jedem Sommer stattfindenden acht- bis zehntägigen Exkursionen in die Alpen. Dazu verteilte Heer seinen Studenten ein separat gedrucktes Büchlein mit selbst gedichteten, humorvollen Texten zu damals bekannten Liedmelodien. Darin wird der homo botanicus mit der Biene verglichen; denn beide streben zu den farbigen Blumen hin, nur wird der Botaniker durch dieses Wandern sehr durstig und sehnt sich – besonders bei verregneten Exkursionen – nach einem Getränk aus Hopfen oder dem feinen, aus der Weinrebe gepressten Saft. Die Lieder haben Titel wie: «Der Pflanzengeist», «Freiheit» oder «Im Wald». (Beachten Sie dazu unsere Rätselfrage).
Oswald Heer war ein vielseitiger Mensch. Schon als Kind interessierte er sich für die Natur, sammelt Pflanzen und legt Herbarien an. Doch erst nach einem Theologiestudium entscheidet er sich dazu, seiner Berufung zu folgen und Naturforscher zu werden.
Er doktoriert und habilitiert an der neu gegründeten Universität Zürich (1833) und steigt rasch vom Extraordinarius zum Professor für Botanik und Entomologie auf. Gleichzeitig wird er Direktor des Botanischen Gartens «zur Katz». Politisch interessiert, war er von 1850 bis 1868 Mitglied des Zürcher Kantonsrats. Mit Charles Darwin, Alexander von Humboldt und vielen anderen Geistesgrössen seines Jahrhunderts stand der Zürcher Naturforscher in regem Kontakt. Seine Korrespondenz richtete sich zuweilen an über 650 Adressaten!
Heute ist Oswald Heer vor allem als Paläobotaniker und Insektenforscher erster Stunde bekannt. Er gilt als der Begründer der Paläontologie der tertiären Flora und Insekten-Fauna und der Pflanzengeografie der Alpen. Darüber hinaus untersuchte er auch fossile Pflanzen aus Sibirien, Spitzbergen, Grönland, Alaska und weiteren Teilen der Arktis. Viele seiner Erkenntnisse verschaffte er sich auf Wanderungen und Exkursionen mit dem Geologen Arnold Escher von der Linth, der wie Heer seit 1855 Doppelprofessor am neu gegründeten eidgenössischen Polytechnikum (heute ETH) in Zürich war. In Europa wurde der Botanik-Professor vor allem durch sein geologisch-paläobotanisches Werk «Die Urwelt der Schweiz» (1865) bekannt.
Heer und seine Leistungen gerieten in Vergessenheit, wohl auch deshalb, weil er – anders als Darwin – die zukunftsweisende Evolutionstheorie ablehnte. Er war Verfechter der so genannten Umprägungstheorie, die im Gegensatz zu Darwins Überlegungen von einer unregelmässigen und sprunghaften Höherentwicklung der Organismen ausging. Er hielt zudem am Einwirken Gottes auf die Erscheinungsformen der Lebewesen in der Erdgeschichte fest. Der Mensch war für ihn die Krone der Schöpfung.
Geographieprofessor Conradin A. Burga von der Universität Zürich hat Oswald Heer nun eine umfassende Biographie gewidmet. Das Sachbuch zeichnet viele Facetten aus Leben und Werk des Naturforschers nach, dessen vielseitiges wissenschaftliches Werk ebenso gewürdigt wird, wie die von ihm gegründeten und geleiteten erdwissenschaftlichen und entomologischen Sammlungen, die sich heute an der ETH Zürich befinden.
Eine Fundgrube für alle, die sich ein realistisches Bild über Persönlichkeit und Schaffen des Universalgelehrten machen wollen.