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Neuropsychologie

Sonderbare Sehnsucht nach Amputation

Menschen, die sich sehnlichst den Verlust eines völlig gesunden Körperteils wünschen, leiden an einer seltenen Identitätsstörung mit der Bezeichnung «Xenomelie». Ein Forscherteam um den Zürcher Neuropsychologen Peter Brugger ist diesem rätselhaften Phänomen auf der Spur.
Michael Keller
Interdisziplinär ausgerichteter Wissenschaftler mit einer Vorliebe für komplexe Problemstellungen: Peter Brugger, Titularprofessor für Verhaltensneurologie und Neuropsychiatrie an der UZH.

Die Xenomelie oder «Fremdgliedrigkeit» ist eine bislang nicht therapierbare Identitätsstörung, bei der sich das Selbstbild einer Person nicht mit ihrem Körperbild deckt. Gemäss Schätzungen sind weltweit einige Tausend Personen davon betroffen, mehrheitlich Männer. Ihnen gemeinsam ist das Gefühl, dass eine oder mehrere Gliedmassen nicht zu ihrem Körper gehören. Sie verspüren mitunter den starken Wunsch, sich der als fremd empfundenen Extremität zu entledigen.

«Lange bin ich der Xenomelie mit Skepsis und Desinteresse begegnet», sagt der Neuropsychologe Peter Brugger. Doch dann begann der Leiter der Abteilung für Neuropsychologie am Universitätsspital Zürich sich für diese seltene Störung zu interessieren.

Den Ausschlag gab ein direktes Gespräch mit einem Betroffenen aus Deutschland, der seine beiden Beine nicht mehr wollte und Brugger deshalb in Zürich aufsuchte. «Der Mann überzeugte mich mit klaren Argumenten, dass die Xenomelie alles andere ist als eine skurrile Spinnerei und dass sich jemand wissenschaftlich darum kümmern sollte», so der Neuropsychologe.

Inkarnation ohne Animation

Brugger begann also, sich mit der Xenomelie zu beschäftigen. Schon bald vermutete er einen Zusammenhang mit einem anderen Phänomen: Der studierte Biologe hatte sich früher eingehend mit Phantomempfindungen von amputierten Menschen beschäftigt. Nun erinnerte er sich an einen Fall, bei dem eine Frau ebensolche Empfindungen hatte, obwohl sie ohne Gliedmassen geboren worden war. «Wir nannten das damals eine «Belebung, die nicht fleischgeworden ist».

Bei der Xenomelie scheint es sich gerade umgekehrt zu verhalten. Die ungewollten Gliedmassen sind zwar fleischgeworden, scheinen aber nicht belebt oder beseelt zu sein – eine Inkarnation ohne Animation», erklärt er.

Brugger, der als interdisziplinär ausgerichteter Wissenschaftler eine Vorliebe für besonders komplexe und vielschichtige Problemstellungen hat, begann fasziniert zu forschen. Zusammen mit der Psychologie-Doktorandin Leonie Hilti und dem Neurowissenschaftler Jürgen Hänggi von der Abteilung Neuropsychologie der Universität Zürich hat Brugger nun jüngst eine bildgebende Studie verfasst. Sie untersuchten die Struktur der Hirnrinde von 13 Männern mit Xenomelie mittels MRI-Messungen.  

Das Forscherteam konzentrierte sich dabei auf zwei Bereiche im Kortex, die bekanntermassen den Körper repräsentieren (Scheitellappen) und Signale aus dem Körperinnern verarbeiten (Schläfenlappen). Diese beiden Gehirnregionen sind dafür bekannt, dass sie das Körpergefühl als ganzheitliche Funktion unterstützen. «Erstaunlicherweise haben wir in beiden Bereichen strukturelle Veränderungen festgestellt», fasst Brugger die Resultate zusammen, die soeben in der renommierten Fachzeitschrift «Brain» veröffentlicht wurden.

Die Feen-Frage

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist der Forscher jedoch vorsichtig: «Es gibt offenbar ein strukturelles Korrelat im Gehirn, aber noch wissen wir zu wenig darüber, was das genau bedeutet.» Persönlich glaube er nicht, dass die Xenomelie ein rein neurologisches Phänomen sei. Auch gehe aus der Studie nicht hervor, ob diese Hirnveränderungen die Ursache oder die Folge der Sehnsucht nach Amputation sei – beides sei möglich.

«Betroffene können den Beginn des Amputationswunsches nicht selten an konkrete Ereignisse knüpfen, etwa an eine prägende Begegnung mit einem amputierten Menschen als Kind. Wenn etwas subjektiv sehr wichtig ist für eine Person, dann kann das auch objektiv messbare Veränderungen im Gehirn verursachen», erklärt der Neuropsychologe. «Diese Huhn-Ei-Problematik wäre sehr spannend zu untersuchen – aber wie man das bewerkstelligen kann, ist unklar», sagt er.

Klar ist, dass Menschen mit Xenomelie mitunter erheblich leiden und dass ihr Wunsch nach Amputation sehr stark sein kann: «Stellt man Betroffenen die Feen-Frage, bei der sie sich zwischen zwei hypothetischen Formen von Hilfe entscheiden müssen – im einen Fall würde ihnen der Wunsch genommen, im anderen Fall erfüllt –, so wählen die Betroffenen fast immer die Erfüllung des Wunsches», weiss Brugger.

Als klinisch arbeitender Neurobiologe aber möchte er den Betroffenen diesen Wunsch nehmen und hofft, mit seiner Forschung den Weg für künftige Therapieansätze zu ebnen. Denn je nach Intensität der Xenomelie kann der Leidensdruck derart hoch sein, dass der Wunsch nach Amputation tatsächlich umgesetzt wird. Jene Fälle allerdings, die er bislang kenne, seien allesamt glücklich mit ihrer Amputation und bereuten die Entscheidung nicht, gibt der Neuropsychologe zu bedenken.

Weiterführende Informationen

Hinweis

Am 14./15. März 2013 findet in Zürich ein Kongress zum Thema Xenomelie statt. Dabei sollen neben medizinischen und psychologischen auch medizinethische und juristische Fragen diskutiert werden.