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Einwanderungsland Schweiz

Aufnehmen oder Abwehren?

Wie soll die Schweiz mit der gegenwärtigen Einwanderung umgehen? Ein Podium mit einer Philosophin, einem Rechtsprofessor und einem Migrationsexperten suchte nach Antworten – und war sich uneins, ob sich hehre Grundsätze in der Realität auch wirklich umsetzen lassen.
Felix Würsten

Die Schweiz ist ein Einwanderungsland: Gemäss Schätzungen des Bundesamtes für Statistik wird die hiesige Bevölkerung auf Grund der starken Einwanderung von 2010 bis 2035 um 12,5 Prozent auf knapp 9 Millionen Menschen zunehmen. Während wirtschaftsnahe Kreise diese Entwicklung grundsätzlich begrüssen, weil die Zuwanderung unserem Land zu Wachstum verhilft, löst sie bei der Bevölkerung Ängste und Abwehrreaktionen aus.

Fragt sich also, wie die Schweiz mit diesem Spannungsfeld umgehen soll. Dass das politisch umstrittene Thema Einwanderung und Ausländer auf konstruktive, aber durchaus kontroverse Art und Weise diskutiert werden kann, zeigte das Podiumsgespräch «Einwanderungsland Schweiz – Wer ist eigentlich willkommen?», das der Verein Jüdischer Studenten Zürich am letzten Donnerstag an der Universität Zürich durchführte.

Einwanderungsland Schweiz: Umdenken gefordert.

Konfrontation mit dem Fremden

Die Philosophin, Psychoanalytikerin und Menschenrechtlerin Maja Wicki hielt gleich zu Beginn der Diskussion fest, dass Menschen aus ganz verschiedenen Gründen auswandern. Wenn diese Menschen in die Schweiz kommen, erwarten sie, hier ein Aufnahmeland zu finden und nicht ein Abwehrland. Wicki forderte, die Schweiz müsse mit den Migranten so umgehen, wie sie dies auch von anderen Ländern erwarten würde, wenn die eigenen Bürgerinnen und Bürger ihr Heimatland verlassen müssten. Sie erinnerte daran, dass die Schweiz lange Zeit ein Auswanderungsland war und viele Schweizerinnen und Schweizer in Ländern wie Kanada, Australien oder Neuseeland eine neue Heimat suchen mussten.

Stefan Schlegel, Leiter der Arbeitsgruppe Migration beim unabhängigen Think-Tank «foraus – Forum Aussenpolitik», teilte Wickis Auffassung, Migration sei schon immer ein emotional belastetes Thema gewesen. Schlegel, der an der Universität Zürich Jura studierte und heute an der Universität Bern eine Doktorarbeit im Bereich Migrationsrecht schreibt, zog Parallelen zur Situation im 19. Jahrhundert. Damals habe die Binnenmigration innerhalb der Schweiz ähnliche Ängste ausgelöst wie heute die Freizügigkeit in Europa.

Widerspruch gegen diese Sichtweise erhob Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Universität Zürich. Es sei zwar tatsächlich so, dass das Fremde ein anthropologisches Grundthema sei und daher Angst auslöse. Massenmigration gebe es aber erst seit dem 20. Jahrhundert, und deshalb sei die heutige Situation per se nicht mit früheren Zeiten vergleichbar.

Gibt es eine Schweizer Identität?

Die Schweiz, hielt Schlegel dem entgegen, könnte auf die gegenwärtige Situation anders reagieren, als sie dies heute tut. Sie könnte sich dafür entscheiden, dass sich nicht nur all jene zugehörig fühlen sollen, die hier sesshaft sind, sondern – nach dem Vorbild der USA – all jene, die sich mit unserem Land identifizieren. Doch: Gibt es überhaupt so etwas wie eine Schweizer Identität? Wenn sie an die Unterschiede zwischen Westschweizern, Innerschweizern und Zürchern denke, dann zweifle sie daran, meinte Maja Wicki. Diese Identität in Frage zu stellen, schien Diggelmann wiederum sehr kühn: Es gebe durchaus eine Schweizer Identität, aber, so räumte er ein, es sei eine prekäre Identität. Und sie werde zunehmend prekärer, weil sich die anderen europäischen Länder und die Schweiz zunehmend ähnlicher würden.

Im Grunde genommen sei die Frage im Titel der Veranstaltung falsch gestellt, meinte Diggelmann. Der grösste Teil der Zuwanderung könne von der Schweiz nämlich gar nicht mehr gesteuert werden. Spielraum bestehe einzig noch im Ausländerrecht, wo die Schweiz über die Zulassung von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten entscheiden könne.

Problematisch ist nach Ansicht Diggelmanns vor allem, dass zahlreiche Menschen aus Drittweltstaaten heute aus wirtschaftlichen Gründen als Asylsuchende in die Schweiz kommen, obwohl dieser Status für solche Menschen eigentlich gar nicht gedacht ist. Dies habe dazu geführt, dass der Begriff Flüchtling heute einen ganz anderen Klang habe als noch vor zwanzig Jahren.

Zähes Ringen

Die Art und Weise, wie die Schweiz mit diesen Asylsuchenden umgeht, findet Wicki schlicht und einfach unmenschlich. Es sei eine der vielen Widersprüchlichkeiten, dass die Schweizer Wirtschaft auf der einen Seite Arbeitskräfte suche, dass aber den Asylsuchenden auf der anderen Seite gleichzeitig mit aller Kraft die Arbeit verwehrt werde. In ihrer beruflichen Tätigkeit erlebe sie immer wieder, dass gerade das Arbeitsverbot zu Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen führe.

Auch Schlegel hat im Umgang mit Asylbewerbern erfahren, dass Arbeit ein zentraler Punkt für das Selbstverständnis dieser Menschen ist. Mit dem Arbeitsverbot solle diesen Menschen das Rückgrat gebrochen werden. Doch die Abschreckung durch den «organisierten Stumpfsinn» funktioniere nicht. Die Arbeitslosigkeit unter den illegal Anwesenden sei etwa gleich hoch wie in der Wohnbevölkerung, erklärte Schlegel, nur wenige seien wirklich auf Nothilfe angewiesen. Das Abwehrdispositiv treffe also nur die Schwächsten. Der Mensch habe einen unbändigen Willen, das Glück im Leben zu suchen, und wenn sich die Schweiz mit diesem Willen anlege, dann müsse sie sich auf ein zähes Ringen einstellen.

Revolutionäres Umdenken

Er habe von seinen Diskussionspartnern viele sympathische Grundsätze gehört, die aber kaum umsetzbar seien, widersprach Diggelmann. Die Schweiz sei nun mal ein Land mit wenig Fläche und viel Wohlstand, und sie müsse daher einen Weg finden, die Einwanderung auf vernünftige Weise zu steuern. Gegenwärtig kämen jedes Jahr rund 80'000 Menschen in die Schweiz, das ergebe in fünf, sechs Jahren eine Stadt von der Grösse Zürichs. Beschränkungen seien daher nötig und auch nicht per se schlecht.

Dass Diggelmanns Skepsis durchaus ihre Berechtigung hat, ist nicht von der Hand zu weisen: Schlegel forderte zwar auf eloquente Weise, die Schweiz brauche angesichts der Globalisierung ein revolutionäres Umdenken in der Einwanderungspolitik, sie müsse die heutige defensive Abwehrhaltung überwinden und sich aktiv fragen, welche Gestaltungsmöglichkeiten sie effektiv habe. Doch was diese Forderung im konkreten politischen Alltag bedeutet, vermochte er letztlich nicht schlüssig aufzuzeigen.

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