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Protestbewegungen

«Politischer Protest hat viel mit Lifestyle zu tun»

Protestbewegungen sind nicht nur rein politische, sondern auch kulturelle Phänomene. Dies verdeutlicht eine grossangelegte internationale Tagung an der Universität Zürich. Joachim Scharloth, wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der UZH, hat die Veranstaltung mitorganisiert.
David Werner

Joachim Scharloth, wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar: «Die Erforschung von Protestbewegungen war früher eine Domäne der Sozial- und Politikwissenschaften. Wir wollen nun die kulturwissenschaftliche Perspektive stärken.»
UZH News: Herr Scharloth, Sie sind Mitorganisator der Tagung «Shaping Europe in a Globalized Word». Was hat sich in der Protestforschung in den letzten Jahren verändert?

Joachim Scharloth: Bislang hat sich die Protestforschung vor allem mit linken Bewegungen befasst, etwa den 68er-Unruhen, der Bürgerrechts-, der Umweltschutz- oder der Frauenbewegung. Man hat mit teilweise normativen Konzepten gearbeitet, die positiv aufgeladen sind: Man ging davon aus, dass Protestbewegungen im Zeichen des zivilgesellschaftlichen Engagements stehen, dass sie die Modernisierung und Demokratisierung vorantreiben.

Aber nicht alle Protestbewegungen fühlen sich dem Allgemeinwohl und der Stärkung der Zivilgesellschaft verpflichtet: Denken sie etwa an den Rechtsradikalismus, der bisher kaum auf dem Radarschirm der Protestforschung auftauchte. Zum Phänomen ‚Protestbewegung’ gehören etwa auch Verbraucherproteste auf Internetforen oder Bauerndemonstrationen in Brüssel. Das Phänomen in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen in den Blick zu bekommen, ist eines der Ziele unserer Tagung. Dafür muss man bestimmte normative Implikationen des Begriffs «Protestbewegung» hinterfragen.

Die Tagung findet im Rahmen des interdisziplinären europäischen Forschungsprojektes «European Protest Movements» statt. Welche Fächer sind daran beteiligt?

Die Sozial- und Kulturwissenschaften sind in ihrer ganzen Breite vertreten, von der Geschichte bis hin zu Sprach- und Medienwissenschaften. Bislang war die Erforschung von Protestbewegungen eine Domäne der Sozial- und Politikwissenschaften. Wir wollen nun die kulturwissenschaftliche Perspektive stärken.

Worin unterscheidet sich die kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise von der soziologischen?

In der Soziologie und Politologie hat man Potestbewegungen als Mittel zur politischen Veränderung angesehen – und ihren Erfolg daran bemessen, welche politischen Ziele sie durchsetzen konnten und welche nicht. Protest hat aber auch viel mit Lifestyle zu tun. Der kulturalistische Blick widmet sich deshalb neben der instrumentellen auch der expressiven Dimension von Protestbewegungen, interessiert sich für symbolische Praktiken und Repräsentationen und für die Rolle der Massenmedien. Es ist ja nicht allein Unzufriedenheit mit gewissen gesellschaftlichen Zuständen, welche die Leute auf die Strasse treibt, sondern die Möglichkeit, im Rahmen der Bewegung neue soziale Verhaltens- und Kommunikationsweisen zu erproben.

Was interessiert Sie als Linguist an Protestbewegungen?

Mich interessiert die Sprache als Medium der Emotionalisierung und Polarisierung. Ich erforsche zudem, wie in Protestbewegungen traditionelle sprachliche Ritualformen durchbrochen und neue geschaffen werden.

Welche Rolle spielen die Massenmedien für den Erfolg von Protestbewegungen?

Ihre Rolle ist kaum zu unterschätzen. Was nicht in die Massenmedien kommt, findet im allgemeinen Bewusstsein kaum statt. Darüber hinaus prägen die Blick- und die Darstellungsweise der Massenmedien die Protestbewegungen.

Nehmen Sie die 68er-Bewegung als Beispiel: Lange Haare, Jeans, Rock’n Roll, Sex- und Kommunengeschichten faszinierten die bildbestimmten Massenmedien viel mehr als abstrakte politische Programme, entsprechend entfaltete die Bewegung auf kulturell-lebensweltlicher Ebene eine viel grössere Wirkung als in der Politik.

Haben sich durch den Medienwandel in den letzten Jahrzehnten auch die Formen des Protestes gewandelt?

Medienwandel ist ein wichtiger Katalysator von Veränderungen von sozialen Bewegungen. Das Internet beispielsweise ermöglicht ganz neue, sehr smarte und effiziente Formen von Protest. Die Protestaktionen werden über Foren, Blogs, Mailinglists und dergleichen organisiert und koordiniert. Es wird so möglich, mit einigen wenigen symbolischen Handlungen die Aufmerksamkeit von Massenmedien zu erregen und damit Breitenwirksamkeit herzustellen. Face-to-Face-Interaktion in grossen Strassendemonstrationen ist so oft gar nicht mehr nötig.

Die bevorstehende Zürcher Tagung ist nicht nur interdisziplinär, sondern auch international ausgerichtet. Ist der Begriff «Protestbewegung» ohne weiteres auf aussereuropäische Kulturkreise übertragbar?

Der Begriff «Protestbewegung» bildete sich in westlichen demokratischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heraus. Überträgt man ihn auf andere Kulturen, läuft man in der Tat in Gefahr, wichtige Unterschiede zu verwischen.

Sehr lehrreich ist diesbezüglich ein Vergleich zwischen der 68er-Unruhen in Japan und im Westen: Die japanische 68er-Bewegung blieb auf einen sektiererischen Kreis radikaler, bald auch terroristischer Polit-Organisationen beschränkt, sie entfaltete keinerlei kulturelle Breitenwirkung. Dies hat wohl damit zu tun, dass damals in Japan keine gesellschaftlich verankerte Tradition des politischen Engagements bestand. Der zivilgesellschaftliche kick-off, wie er für Westeuropa und die USA typisch war, fand deshalb in Japan nicht statt.

Macht es angesichts der Vielfalt von Protestbewegungen überhaupt Sinn, von einem einzigen Begriff auszugehen?

Wir versuchen, von den normativen, westlich geprägten Implikationen des Begriffs Protestbewegung wegzukommen und haben zu diesem Zweck das historisch unbelastete Konzept einer «Arena of Contestation» erarbeitet. Eine «Arena of Contestation» entsteht dann, wenn Aktionen so inszeniert werden, dass sie als Protest lesbar werden. Das können neben grossen Demonstrationen auch kleine Einzelhandlungen sein, sofern sie auf Resonanz stossen.

Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer unseres Forschungsprojektes stammen aus osteuropäischen Ländern. Sie machten mit Blick auf die kommunistische Ära wiederholt darauf aufmerksam, dass in repressiven Systemen Massenproteste schlicht nicht vorgesehen sind, anderseits aber schon ganz subtile Normabweichungen im individuellen Verhalten als Ausdruck von Auflehnung gedeutet werden können.

Das heisst: je nach gesellschaftlichem Kontext gelten ganz unterschiedliche Verhaltensweisen als Protest. Wer kulturvergleichend arbeitet, muss sich deshalb Klarheit darüber verschaffen, in welchem staatlich-rechtlichen Kontext Protest jeweils stattfindet, welche Möglichkeiten medialer Inszenierung jeweils bestehen und ob es eine zivilgesellschaftlich gewachsene Tradition der Unmutsbekundung gibt oder nicht. Im unserem metaphorischen Konzept einer «Arena of Contestation» werden all diese Aspekte mitberücksichtigt.

Welches sind Ihre weiteren Vorhaben im Rahmen des Forschungsprojektes «European Protest Movements»?

Das Projekt läuft nächstes Jahr aus. Zum Abschluss erarbeiten wir ein Handbuch zum Thema «Protestkulturen», an dem Autoren und Autorinnen aus 35 Nationen mitarbeiten. Das Handbuch soll der kulturwissenschaftlichen Perspektive eine grössere Geltung verschaffen; ein sehr ambitiöses Projekt, das nur dank der grosszügigen Finanzierung durch die EU möglich wurde.

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