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Fotoausstellung Völkerkundemuseum

Die heilige Stadt Varanasi ist ein brüllendes Biest

Wie sieht es zu Hause bei indischen Familien aus? Wer darf das Baby halten, wenn der Fotograf abdrückt? Fabian Biasio hat in Indien fotografiert. Entstanden ist eine an Einsichten reiche und sehr vergnügliche Ausstellung. Zu sehen im Völkerkundemuseum der Universität Zürich.
Sascha Renner
Wohlhabende Händlerfamilie vor einem Maharadscha-Palast.

Endlich scheint der Termin zu klappen. Fabian Biasio lädt seine Fotoausrüstung samt Lampen und Stativ in eine Fahrradrikscha. Er ist mit einer muslimischen Seidenhändlerfamilie verabredet. Auf dem Dach des fünfstöckigen Gebäudes richtet er sein ambulantes Fotostudio ein.

Das Abendlicht ist wunderbar zart. Die Männer reihen sich auf. Doch es fehlen sämtliche Frauen der Familie. Sind sie noch vor dem Spiegel? Der Fotograf insistiert. Er bettelt. Schliesslich erklärt das Familienoberhaupt: Die Frauen kommen nicht. Ein Schock. Unter mitleidigem Kopfschütteln der Männergesellschaft packt der Fotograf sein Fotostudio wieder ein.

Was würden die Nachbarn denken

Fabian Biasio ist ein unterhaltsamer Erzähler. Mit seiner Anekdote nimmt er die Vernissagegäste im Völkerkundemuseum sogleich gefangen. Der 34-Jährige reflektiert seine Rolle als Fotograf in der Fremde, und es sind für ihn gerade die kulturellen Missverständnisse, die interessante Zusammenhänge ans Tageslicht bringen können.

Tänzerdynastie: Tritt der Kamera in eingeübten, eleganten Posen entgegen.

So ist für ihn mittlerweile klar: In einer traditionellen, patriarchalen Familie treten die Frauen nie gemeinsam mit dem Familienoberhaupt auf. Auch nicht für den Fotografen aus Luzern. Was würden die Nachbarn denken!

Im Völkerkundemuseum zeigt Fabian Biasio eine Bildserie, die zwischen Januar und Mai 2008 entstanden ist. Der Fotograf gewann einen Aufenthalt im Künstleratelier der Konferenz der Schweizer Städte für Kulturfragen (KSK). Diese Zeit nutzte er, um hinter die Kulisse des indischen Alltags zu blicken.

Plötzlich stellen sich ungeahnte Fragen

Er besuchte indische Familien aller Kasten und sozialen Schichten in ihrem Zuhause und fotografierte sie. Er machte «Sofabilder», wie er es nennt: «Das sind Familienbilder im Jargon der Schweizer Illustrierten», so Biasio, der in seiner Anfangszeit als Pressefotograf auch für Boulevardmedien arbeitete und mittlerweile zu den angesehensten Schweizer Reportagefotografen zählt.

Dabei wurde er, wie er erzählt, immer wieder dankbarer Zeuge unterschiedlicher Familiendynamiken: «Plötzlich stellten sich ungeahnte Fragen: Sitzt der Opa, die Grossmutter oder der Vater im Zentrum des Bildes? Und wer darf das Baby im Arm halten?»

Familie Sheikh: Haust in einem Zelt aus Holz, Plastik, Pappe und Tüchern.

Biasio gab keine Regieanweisungen, und er retouchierte im Nachhinein auch nicht. Die Menschen sollten sich so inszenieren, wie sie es für richtig hielten. Genau darin liegt der ethnografische Wert dieser Bilder, wie Mareile Flitsch, Direktorin des Völkerkundemuseums, ausführte: «Diese Fotografien sind Innensichten. Sie übersetzen für uns das Selbstverständnis dieser Leute. Damit tut der Fotograf genau das, was auch Ethnologen tun.»

Der Lärm ist ohrenbetäubend

Die Bilder entstanden in Varanasi, eine der heiligsten Städte des Hinduismus. Seit mehr als 2500 Jahren pilgern Gläubige in die Stadt am Ganges. Dort bestattet zu werden, schafft die besten Voraussetzungen für das künftige Leben.

Dementsprechend ist die Stadt immer berstend voll mit Heilsuchenden und Überlebenswilligen. «Varanasi ist ein brüllendes Biest», sagt Biasio. «Der Lärm ist ohrenbetäubend und der Gestank der Abgase und Exkremente widerlich.» So machte er es wie die Inder: «Ich band mir ein Tuch vor Mund und Nase – es war in kürzester Zeit schwarz vor Russ.»

Als ob man durch die Schweizer Illustrierte blättert

Die Bilder zeigen einen schillernden Querschnitt durch die indische Gesellschaft. Da ist die Tänzerdynastie, die der Kamera in eingeübten, eleganten Posen entgegentritt. Da ist die wohlhabende achtzehnköpfige Händlerfamilie, die sich in protokollarischer Ordnung vor einem Maharadscha-Palast aufreiht. Da ist die Familie Sheikh, die vom Müllsammeln lebt und in einem Zelt aus Holz, Plastik, Pappe und Tüchern  haust. Und da ist die gebildete Singh Family, die in einem hübschen Haus auf dem Universitätsgelände wohnt.

Die Familien bleiben nicht anonym. Eingesprochene Texte der Journalistin Andrea Strässle erklären per Audioguide die Lebensumstände der porträtierten Familien. So ist eine nicht nur lehrreiche, sondern auch sehr vergnügliche und kurzweilige Ausstellung entstanden. Fast ein wenig so, wie wenn man durch die Schweizer Illustrierten blättert.