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Lernen, dass sich interagieren lohnt

Autismus gilt als Störung des Kommunikationsverhaltens, des Spiels und der sozialen Interaktion. Dank des im Ausland seit langem praktizierten ABA-Programms, das die Universität Zürich als erste im deutschsprachigen Raum anbietet, haben Kinder mit Autismus hierzulande endlich bessere Entwicklungschancen.
Brigitte Blöchlinger

Die Übergänge zwischen leichten und schweren Formen des Autismus sind fliessend. Deshalb nennt sich das heute stattfindende Symposium «Autismus-Spektrum-Störung».

Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde die «Schuld» an autistischen Kindern den Müttern in die Schuhe geschoben und als Mittel gegen Autismus empfahl man zum Beispiel auch hohe Vitamingaben. Mittlerweile hat die Wissenschaft dazugelernt und definiert Autismus als genetisch bedingte Hirnfunktionsstörung, die sich vor allem im Kommunikations- und Spielverhalten und in der sozialen Interaktion ausdrückt. Eine medikamentöse Basisbehandlung existiert nach wie vor nicht. In akuten Situationen, wenn die autistischen Kinder sehr unruhig sind und aggressiv gegen andere oder sich selbst vorgehen, werden Psychopharmaka verschrieben, die jedoch nicht auf die Leitsymptome einwirken. Erste kleine Studien testen zur Zeit das Hormon Oxytocin als potentielle Substanz eines zu entwickelnden Autismus-Medikaments mit direkter Wirkung auf die Kernsymptomatik.

Vieles noch unerforscht und unbekannt

Prof. Hans-Christoph Steinhausen, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie der UZH und Initiator des Fachsymposiums «Autismus-Spektrum-Störungen» vom 17. August 2007.

Nach wie vor weiss man auch nicht, wie die genetische Situation bei Autismus aussieht. «Mehrere Forschungsgruppen suchen weltweit nach den verantwortlichen Genen für Autismus», sagt Prof. Hans-Christoph Steinhausen, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ZKJP) der Universität Zürich und Initiator des Fachsymposiums «Autismus-Spektrum-Störungen» vom 17. August 2007. Autismus wird nicht direkt von den Eltern auf die Kinder vererbt. Im Gegenteil: Eltern von Kindern mit Autismus sind in der Regel selbst nicht betroffen. «Leichtere Formen des Autismus wie das Asperger-Syndrom können sich jedoch in einer von Autismus betroffenen Familie in mehreren Generationen finden», erklärt Dr. Ronnie Gundelfinger, Leiter der Spezialsprechstunde für Autismus an der Poliklinik des ZKJP.

Nicht alle Betroffenen weisen dabei das Vollbild des Autismus auf. Manche sind normal intelligent, jedoch sozial auffällig beziehungsweise exzentrisch oder kauzig, wie man früher gesagt hätte. Typisch für Autismus sind folgende Auffälligkeiten: schon als Kleinkind unfähig, mit Gleichaltrigen zu interagieren; kein Verständnis für nonverbale soziale Signale; lernt erst mit Verspätung oder gar nicht zu sprechen und redet in einer formellen, pedantischen Sprache mit seltsamer Satzmelodie; meist begrenzter Blickkontakt und eingeschränkte Gestik, Mimik und Körpersprache.

Dr. Ronnie Gundelfinger, Leiter der Spezialsprechstunde für Autismus an der Poliklinik des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie der UZH.

Viele Übergangsstufen von Autismus

Die Übergänge zwischen leichten und schweren Formen des Autismus sind fliessend, betont Prof. Steinhausen. Viele Patienten sind weder klassisch autistisch noch weisen sie alle Symptome eines Asperger-Syndroms auf. Deshalb handelt die Tagung auch von «Autismus-Spektrum-Störungen», um den Gedanken hervorzustreichen, dass es zahlreiche Übergangsstufen von Autismus gibt. Der Spektrumsgedanke stammt aus der klinischen Psychologie und schliesst sowohl die klassischen Bilder des frühkindlichen Autismus mit unterschiedlichem Schweregrad, das verwandte Asperger-Syndrom, als auch Übergangsformen mit unvollständiger Ausprägung der einzelnen Verhaltensmerkmale ein. «Es gibt eben auch Leute, die nicht das klinische Vollbild von Autismus aufweisen, sondern nur 'ein bisschen sonderlingshaft' sind», umschreibt Steinhausen seine klinische Erfahrung, «vielleicht weil sie ein sonderbares Hobby pflegen und nicht gerade Weltmeister im Knüpfen von Beziehungen sind.»

Intensives Training über Monate

Im klinischen Alltag geht es jedoch vornehmlich um klare Diagnosen. Das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat einiges in die adäquate Diagnose und Behandlung von Autismus investiert und ist im deutschsprachigen Einzugsgebiet zu einer der führenden Adressen bei Autismus-Störungen avanciert. Seit dreieinhalb Jahren bietet es als erste Institution in der Schweiz die aus den USA stammende Behandlungsmethode ABA an. Acht Kinder von insgesamt über hundert Kindern mit der Diagnose Autismus erhalten dieses Jahr mit ABA die Möglichkeit, zu Hause in einem intensiven Training fünfmal sieben Stunden pro Woche die zwischenmenschliche Interaktion zu lernen und zu verbessern. «Ein ähnlich intensives Training gibt es sonst nirgends in der Kindertherapie», sagt Steinhausen. Bei Autismus hat sich dieses tägliche mehrstündige Training unter Einbezug der Mütter jedoch bewährt, wie die langjährigen Erfahrungen in den USA, in England und Norwegen gezeigt haben. Im deutschsprachigen Raum ist die Universität Zürich mit Bremen die erste Institution, die ABA-Trainings durchführt.

Kommunizieren mit PECS

Zu Beginn können die autistischen Kinder, die alle unter fünf Jahre alt sind, weder sprechen, noch verstehen sie viel, geschweige denn, dass sie von sich aus einfach spielen würden; meist traktieren sie repetitiv irgendeinen Gegenstand und ertragen keine fremden Leute um sich. In der Therapie müssen sie sich als erstes stufenweise an die Präsenz der Therapeutin gewöhnen. Wenn das geschafft ist, geht es darum, mit Hilfe eines therapeutischen «Bilderbuchs» die Bedürfnisse wortwörtlich an den Mann respektive die Frau zu bringen. Das Picture Exchange Communication System (PECS) hilft dabei; es ist im wesentlichen ein Buch, das herausnehmbare Abbildungen von Gegenständen enthält, die das Kind mag (Essen, Spielsachen etc.). Will das Kind etwas mitteilen, zum Beispiel dass es Durst hat oder den Teddy möchte, muss es das entsprechende Bild suchen, es herausnehmen und damit zur Mutter oder Therapeutin gehen, die ihm daraufhin als «Antwort» das Gewünschte reicht. «Damit fördern wir von Anfang an das, was das Kind mit Autismus am wenigsten kann: sich den Menschen zuzuwenden, wenn es etwas möchte», erklärt die Psychologin Tanja Rothe, die die ABA-Trainings leitet.

Die Psychologin Tanja Rothe, die die ABA-Trainings mit autistischen Kindern leitet.

Anders als beim klassischen ABA setzt man in Zürich nicht zuerst auf die gesprochene Sprache. Das Erlernen der Muttersprache kommt erst in einem zweiten Schritt an die Reihe, wenn das Kind mit Autismus gelernt hat, «dass es sich lohnt, seine Bedürfnisse zu kommunizieren», schildert Ronnie Gundelfinger den Hintergrund des abgewandelten Zürcher ABA-Trainingsprogramms.

Verhalten positive Entwicklung

Am meisten profitieren die Kinder mit Autismus kognitiv und indem sie Sprachwissen aufbauen, hat die kontinuierliche Evaluation der Zürcher ABA-Variante ergeben. Die Freude am Kommunizieren hinkt jedoch in der Entwicklung meist hinterher. Immerhin haben zwei der bisher zwölf behandelten Kinder so grosse Fortschritte gemacht, dass sie in den Regelkindergarten gehen konnten – ein Riesenschritt, wenn man bedenkt, dass Kinder mit Autismus früher einfach als behindert galten, deshalb entweder zu Hause oder in Heimen lebten und als Erwachsene nie ein auch nur annähernd selbstbestimmtes Leben führen konnten.