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Es ist ein ungewöhnliches Ensemble: ein rund drei Meter hohes Kultobjekt aus farbigen, bedruckten Stoffwimpeln, Holzstangen und Schnüren, daneben der grüne Stahltank einer Eisernen Lunge. Im Gestell dahinter sind Abgüsse von antiken Säulenkapitellen erkennbar und mittendrin liegt auf mehreren Paletten ein wuchtiger Finnwalschädel. «Unser grösstes Objekt», erklärt Wibke Kolbmann, Geschäftsführerin Museen & Sammlungen der UZH.
Wir stehen im Lagerraum für die Grossobjekte im Sammlungszentrum der UZH in Buchs im Zürcher Furttal. Der Raum vereinigt unter anderem Gegenstände aus der zoologischen, der archäologischen, völkerkundlichen und medizinischen Sammlung der UZH, die in den fünf Stockwerken des Gebäudes untergebracht sind. Zwischen Spenglereibetrieb, Logistikzentrum und einer ehemaligen Tennishalle lagern hier Kulturschätze von nationalem Wert. «Die Sammlungen der UZH sind Teil des Schweizerischen Kulturgüterinventars», so Kolbmann. Sie sind nicht nur für die UZH, sondern auch für das ganze Land als erhaltens- und schützenswert eingestuft.
Im Lagerraum der Anthropologischen Sammlung zieht Michael Krützen, Direktor des Instituts für Evolutionäre Anthropologie, einen Behälter mit Primatenschädeln aus einem der vielen Rollregale. Sieben Schädel von Halsbandmangaben sind darin aufbewahrt, geschützt und stabilisiert mit Schaumstoffelementen. «Die Primatensammlung an der Universität Zürich ist eine der bedeutendsten weltweit», sagt er. Zusammengetragen wurde sie hauptsächlich ab den 1940er-Jahren unter anderem vom damaligen Institutsvorsteher und Anthropologen Adolf Hans Schulz.
«Früher wurden in der anthropologischen Forschung die Schädel und Knochen ausgemessen und miteinander verglichen», erklärt Krützen. Dieses Vermessen und Vergleichen ist jedoch nicht mehr zeitgemäss. Heute befasst sich die Anthropologie viel stärker mit Fragen des Verhaltens und der evolutionären Entwicklung. «Die Forschung hat sich von den Knochen wegentwickelt», so Krützen, der selbst vor allem das Verhalten von Delfinen erforscht.
Dennoch ist die Sammlung wegen ihres Umfangs und ihrer Qualität auch für aktuelle Forschungsfragen noch immer «unheimlich wertvoll», wie Krützen betont. Die etwa 11'000 Objekte – meist Schädel und Knochen – dokumentieren rund 90 Prozent der bekannten Primatenarten. «Eine vergleichbare Sammlung könnte heute nicht mehr aufgebaut werden», sagt Krützen. Die Zeiten, in denen auf Expeditionen Tiere abgeschossen und in zoologische Sammlungen verfrachtet wurden, sind längst vorbei. Neuzugänge stammen heute vereinzelt aus Zoos oder von privaten Sammlern.
Der historische Schatz, so Krützen, sollte erhalten bleiben. «Gerade weil wir nicht wissen, welche Art von Forschung in Zukunft möglich ist.» So kann heute beispielsweise der Zahnschmelz analysiert werden. Das ermöglicht Rückschlüsse darauf, wie sich die Primaten ernährt haben. Ohne die Sammlungen wäre diese Forschung nicht möglich. Denn es gäbe gar keine Proben, die untersucht werden können.
In den Rollregalen gegenüber der Primatensammlung stehen graue Kartonschachteln dicht an dicht. Vor Blicken geschützt werden dort menschliche Überreste – grösstenteils Schädel – aufbewahrt. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sie für die heute wissenschaftlich überholte Rassenforschung verwendet. «Als die Sammlung damals zusammengestellt wurde, fragte niemand danach, woher die Objekte kommen», sagt Krützen. Das ist heute anders. Die Frage, aus welchem kulturellen Kontext die Überreste stammen und auf welche Weise sie in die Sammlung gelangten, ist relevant. Sie hat einen Einfluss darauf, ob und auf welche Art die Sammlung für Forschungszwecke genutzt werden kann.
Für Krützen ist klar, dass kulturelle und religiöse Gebote und Traditionen aus den Herkunftskulturen der menschlichen Überreste bei Forschungsvorhaben berücksichtigt werden müssen. «Für mich sind in diesen Fällen ethische Überlegungen wichtiger als mögliche wissenschaftliche Erkenntnisse.»
Beispielsweise könnten sämtliche menschlichen Schädel der Sammlung digitalisiert werden. So wären sie für die Forschung verfügbar, ohne dass man dazu das physische Objekt noch benötigt. «Doch in einigen Kulturen ist es nicht gewünscht, dass Digitalisate von den Überresten gemacht werden. Das müssen wir respektieren.»
Wir sollten für die ganze Universität einen einheitlichen Umgang mit Fragen zu Dekolonialisierung, Provenienzforschung und Restitution haben.
Ein respektvoller Umgang mit menschlichen Überresten ist auch für Frank Rühli, Dekan der Medizinischen Fakultät und Leiter des Instituts für Evolutionäre Medizin (IEM), zentral. Vor knapp zehn Jahren wurden mehrere tausend Präparate menschlichen Ursprungs aus der damaligen Medizinhistorischen Sammlung der UZH in eine eigene Sammlung für Human Remains am IEM überführt und von der Medizinischen Sammlung getrennt.
Unter den menschlichen Überresten befinden sich Skelette, Knochen, medizinische Präparate von menschlichen Organen aus der Pathologie des Universitätsspitals oder aus der Rechtsmedizin, sowie eine kleine Gruppe von Mumien. «Die Sammlung ist sowohl für die Lehre wie für die Forschung relevant», erklärt Rühli. Insbesondere Beispiele seltener Krankheiten oder Verletzungen werden anhand der Präparate in Lehrveranstaltungen veranschaulicht. Dabei sei ihm wichtig, die Überreste mit dem gleichen Respekt zu behandeln «wie Patient:innen», erklärt Rühli. Er und sein Team haben dazu einen «Code of Ethics» entwickelt und auch wissenschaftlich zur Thematik publiziert.
Zum respektvollen Umgang gehört auch die Frage, woher die Objekte stammen. Kommen sie aus Spitälern oder archäologischen Grabungen, so ist dies meist unproblematisch. In den Regalen der Anthropologischen Sammlung stehen aber auch Schachteln, die mit «Herero» angeschrieben sind. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen bei militärischen Vergeltungsaktionen und in Konzentrationslagern der deutschen Kolonialmacht in Namibia Zehntausende Mitglieder des Herero-Stamms um. Dies gilt als der erste Völkermord im 20. Jahrhundert.
«Die Herkunft dieser Schädel ist problematisch», erklärt Michael Krützen, «aber wir müssen uns der Vergangenheit stellen.» Er tritt für einen offenen Umgang mit Fragen der Herkunft ein. Im vergangenen Jahr wurde die Provenienz der Herero-Schädel in Schweizer Sammlungen in einer Masterarbeit der Universität Basel untersucht. Aktuell bearbeitet das Institut zudem Anfragen der Regierungen von Australien und Neuseeland für die Rückführung von menschlichen Überresten, damit diese in heimischer Erde bestattet werden können.
Zwar lässt sich meist nachvollziehen, über welche Wege die Schädel in die Sammlung kamen, doch ist es kaum mehr zurückzuverfolgen, aus welcher Region oder gar welcher Familie die einzelnen Individuen stammen, geschweige denn, wer sie waren. «Sobald wir geklärt haben, welche Schädel in der Sammlung tatsächlich aus Australien sind, werden wir uns mit der Regierung für das weitere Vorgehen in Verbindung setzen.» Die Anthroplogische Sammlung ist nicht die einzige, die mit Fragen der Restitution, also der Rückgabe von sensiblen Objekten, konfrontiert ist. Als sensibel werden nicht nur menschliche Überreste bezeichnet, sondern auch Sakral-, Ritual- und Zeremonialgegenstände oder Grabbeigaben sowie Objekte, die allenfalls unrechtmässig erworben wurden, etwa gestohlene Gegenstände.
Wie man damit umgehen kann, zeigt aktuell das Völkerkundemuseum der UZH in der Ausstellung «Benin verpflichtet». Gemeinsam mit sieben anderen Schweizer Museen beteiligt es sich an der Benin-Initiative Schweiz. Sie hat in den vergangenen drei Jahren in enger Kooperation mit Partnern aus Nigeria die Herkunft der knapp hundert Objekte aus dem Königreich Benin in Nigeria untersucht, die sich in Schweizer Sammlungen befinden.
Das Resultat: Über die Hälfte der Objekte – Kunst- und Kultobjekte aus Messing, Elfenbein und Holz – stammen sicher oder mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Plünderung des Königspalasts im Jahr 1897. Dazu gehören auch 14 der 18 Objekte im Besitz des Völkerkundemuseums. Die Bereitschaft, Rückgabeforderungen zu entsprechen, sei sehr hoch, erklärte der Kurator Alexis Malefakis vergangenes Jahr in einem Interview auf der Website der UZH. Oft sei allerdings nicht ganz klar, woher die Objekte im Einzelnen stammen. Das Museum prüft nun die nächsten Schritte für eine mögliche Rückgabe nach Nigeria.
Es ist wichtig, dass sich die Universitätssammlungen vernetzen – auch mit Universitäten in der Schweiz und im Ausland.
«Wir sollten für die ganze Universität einen einheitlichen Umgang mit Fragen zu Dekolonialisierung, Provenienzforschung und Restitution haben», sagt Krützen. Im Rahmen der Konferenz der Institute mit Sammlungen (KIMS) der UZH, die er gemeinsam mit Mareile Flitsch, der Direktorin des Völkerkundemuseums, leitet, wird derzeit ein entsprechender Leitfaden erarbeitet. «Es ist wichtig, dass sich die Universitätssammlungen vernetzen», sagt auch Wibke Kolbmann. «Nicht nur innerhalb der Universität, sondern ebenso unter den Universitäten in der Schweiz und im Ausland.» Um diese Vernetzung anzustossen, organisierten UZH und ETH dieses Jahr gemeinsam die Jahrestagung für Universitätssammlungen, die erstmals in der Schweiz durchgeführt wurde. Sie bot nicht nur Gelegenheit, sich über Fragen zu Restitution, Digitalisierung oder Outreach auszutauschen, sondern auch, die Sammlungen der UZH den Fachkolleginnen und -kollegen aus dem Ausland näherzubringen.
Durch die gemeinsame Unterbringung in Buchs sind die Sammlungen bereits örtlich zusammengerückt und profitieren dort von den idealen Lagerbedingungen. «Temperaturschwankungen und Feuchtigkeit sind die grössten Gefahren für den Erhalt der Sammlung», erklärt Sirpa Kurz, zoologische Präparatorin am Naturhistorischen Museum der UZH. In Buchs wird beides konstant kontrolliert. Zudem sind in den Sammlungsräumen mit den zoologischen Präparaten Schädlingsfallen aufgestellt, die regelmässig überprüft werden. Mit den Massnahmen wird verhindert, dass die zum Teil sehr alten und angeschlagenen Objekte weiter Schaden nehmen.
Kurz ist verantwortlich für die Präparate der Zoologischen Sammlung, die seit Sommer in sieben Räumen untergebracht sind. In langen Reihen von Rollregalen sind hier Löwen, Eisbären, Steinböcke, aber auch Enten, Möwen oder Tiefseefische dicht an dicht gemäss ihrer zoologischen Klassifizierung eingereiht. Auf Paletten in der Raummitte stehen ein Elch, ein Bison und zwei Elefantenbabys beieinander, die zu gross sind für die Regale.
Sie waren zuvor jahrelang in einer Tiefgarage im Irchel untergebracht, keine idealen Bedingungen für die zum Teil heiklen Präparate. Sirpa Kurz zeigt auf eine weisse Schneeziege im Rollregal: «Vor dem Umzug war sie ganz grau, jetzt ist sie wieder eine echte Schneeziege.» Sie ist nur eines von rund 8500 Präparaten und Lehrmodellen, die vor dem Umzug nach Buchs aufwendig gereinigt werden mussten. Ein halbes Jahr lang arbeiteten insgesamt 25 Personen daran, bliesen mit Druckluft Staub und Dreck aus den Fellen der Elche und Eisbären, wischten Glasaugen ab, holten mit Eulenfedern Verunreinigungen aus den Kolibri-Präparaten, putzten mit Tüchern, Schwämmen und Wattestäbchen die zerbrechlichen Flossen der Fische.
Das Reinigungsteam musste dabei Schutzanzüge und Atemschutzhauben tragen, der Zugang zu den einzelnen Teilen der im alten Lager installierten Reinigungsstrasse war nur durch Schleusen möglich. «Ein Grossteil der Präparate stammt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert», erklärt Kurz. «Damals wurden sie mit diversen Chemikalien behandelt, um mögliche Schädlinge abzutöten, und enthalten darum entsprechende Giftstoffe.» Heute ist dies verboten. Bevor neue Präparate in die Sammlung kommen, werden sie mit Kälte oder Stickstoff behandelt, um Schädlinge abzutöten. So wird verhindert, dass diese ins Depot eingeschleppt werden. In Buchs steht dazu eine Stickstoffkammer, wo die Präparate vier bis acht Wochen behandelt werden, bevor sie in die eigentlichen Depoträume kommen.
Das Sammlungszentrum ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ein kleiner Teil der Schätze, die die Sammlungen beherbergen, ist jedoch in den Museen der Universität zu sehen. Rund 1000 Präparate aus der Zoologischen Sammlung sind zum Beispiel im Naturhistorischen Museum ausgestellt. «Damit erfüllen die Sammlungen auch einen wichtigen Zweck in der Wissenschaftsvermittlung», sagt Kolbmann. Und auch wenn in den Museen nur die Spitze des Eisbergs zu sehen ist: Mehr als 200000 Besucherinnen und Besucher in den universitären Museen 2023 zeigen, dass die Faszination der Sammlungen weit über Forschung und Lehre hinauswirkt.