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Interdisziplinär studieren

Vernetzter denken

In einem Seminar des UZH-Zentrums für Krisenkompetenz suchen Studierenden fachübergreifend nach konkreten Lösungen für urbane Konflikte. Zum Beispiel in der Zürcher Bäckeranlage.
Adrian Ritter
Suchen gemeinsam Lösungen für Nutzungskonflikte in der Zürcher Bäckeranlage: Markus Meile (Stadt Zürich), Eveline Odermatt (Zentrum für Krisenkompetenz UZH) und Germanistik-Doktorandin Chiara Diener. (Bild: Diana Ulrich)

Es ist eine Oase inmitten der Stadt Zürich: die Bäckeranlage. Riesige Bäume, Grünfläche, ein Wasserbecken für die Kinder und ein Restaurant. Der Park ist beliebt bei alt und jung. Auch Obdachlose und die Drogenszene nutzen ihn seit den 1970er-Jahren immer wieder als Treffpunkt. Dabei kommt es auch zu Konflikten zwischen den Nutzergruppen – und von politischer Seite zur Forderung nach einem harten Durchgreifen gegen die Szene. Die Frage taucht deshalb immer wieder auf: Wie lässt sich der Raum friedlich nutzen?

Diese Frage ist nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich interessant, findet Chiara Diener. Die Doktorandin der Germanistik beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der Interaktion von Menschen in sozialen Räumen – allerdings mit dem Fokus auf theoretische Aspekte. Ergänzend zu ihrer Dissertation besuchte sie ein Modul an der UZH, in welchem sie das Thema anhand eines konkreten gesellschaftlichen Brennpunkts betrachten konnte. Ihre Frage: Trägt die räumliche Gestaltung der Bäckeranlage mit dazu bei, dass es zu Konflikten kommt?

Das Modul nennt sich «Die Krise und die Stadt: Urbane Herausforderungen und Krisenkompetenz im urbanen Raum Zürich» und wird vom Zentrum für Krisenkompetenz der Universität Zürich angeboten. Die Veranstaltung setzt den Rahmen: In interdisziplinären Zweierteams bearbeiten die Teilnehmenden Themen, die in der Stadt Zürich zu Konflikten und Krisen geführt haben oder führen. Dabei ging es neben Konflikten im sozialen Raum etwa um die Pandemie und den Klimawandel.

Offenheit ist gefragt

Chiara Diener und ein Student der Religionswissenschaft fanden sich über ihr gemeinsames Interesse an einer bestimmten wissenschaftlichen Methode, um Räume zu analysieren. Der Student hatte die Methode bereits angewandt, Diener war interessiert, dies ebenfalls zu tun. So erkundeten sie gemeinsam die Bäckeranlage, ausgerüstet mit methodischen Texten, Kamera und offenen Augen und Ohren.

In der gemeinsamen Seminararbeit brachte Diener vor allem soziologische Theorien zum Stadtraum mit ein, der Religionswissenschaftler betonte unter anderem den historischen Blick auf den Park. Gemeinsam kamen sie zum Fazit: Ja. Die Anlage wäre gross genug, damit sich verschiedene Nutzergruppen darin in Koexistenz aufhalten können. Allerdings sind die entsprechenden Teile des Raumes zu wenig voneinander abgetrennt – was sich durch bauliche Massnahmen ändern liesse. 

Portraitbild von Chiara Diener

Mir wurde klar, warum sich gewisse Massnahmen zum Klimaschutz nicht so einfach realisieren lassen. Es braucht eine rechtliche Grundlage und einen politischen Prozess.

Chiara Diener
Germanistik-Doktorandin

Für Diener war die Erfahrung in verschiedener Hinsicht wertvoll. Einerseits konnte sie eine neue Methode anwenden. Andererseits war die Zusammenarbeit vor allem eine Übung in Offenheit: «Das braucht es, um eine Arbeit nicht wie sonst üblich allein zu schreiben. Und da entsteht erst recht ein anderes Resultat, wenn das mit einer Person geschieht, die nicht dieselbe fachliche Brille trägt wie ich und andere Perspektiven einbringt.»

Einzigartige Kooperation

Die eigene Perspektive erweitern, unterschiedliche fachliche Blickwinkel kombinieren und dabei eine konkrete gesellschaftliche Herausforderung analysieren: Das Modul zu urbanen Herausforderungen und Krisen fördert genau diese Fähigkeiten. Im Herbst 2024 wurde es vom Zentrum für Krisenkompetenz der UZH erstmals angeboten. Die Veranstaltung für Masterstudierende und Doktorierende ist nicht nur inter- sondern auch transdisziplinär angelegt. Neben verschiedenen Fachrichtungen wollte man also auch Praxispartner von ausserhalb der Universität einbeziehen.

In der Pandemie hatte sich gezeigt, dass die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nicht immer optimal funktioniert. So entstand die Idee einer Kooperation zwischen Universität und Stadt Zürich. Im Rahmen des dreijährigen Projekts organisiert die UZH auch erstmals ein Lehrangebot in Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich.

Inhaltlich geht es im Kurs um die Fragen: Mit welchen Konflikten und Krisen ist die Stadt Zürich konfrontiert? Wie kann sie sich für zukünftige Krisen wappnen? Das Modul ist dabei in Themenblöcke aufgeteilt, die sich jeweils einer städtischen Herausforderung widmen.

Wertvolle Diskussionen

Zur Vorbereitung lesen die Studierenden Texte aus verschiedenen Disziplinen zum entsprechenden Thema. In der Lehrveranstaltung findet dann ein Co-Teaching statt: Fachpersonen der Universität und aus der Stadtverwaltung bringen ihr Wissen und ihre Sichtweise ein. Zusätzlich besuchen die Teilnehmenden gemeinsam Orte, die für Herausforderungen der Stadt Zürich stehen – wie etwa die Bäckeranlage oder eine Unterkunft für Flüchtlinge.

30 Studierende aus fünf Fakultäten haben an der ersten Durchführung des Moduls teilgenommen. Sie nutzten die Chance für den ungewohnten fachübergreifenden Austausch. Chiara Diener interessierte sich zum Beispiel für die Fragen: Was sagt die Politikwissenschaft dazu, wie Notrecht in einer Krise legitimiert sein muss? Und was weiss die Soziologie darüber, wie man Massnahmen gegen den Klimawandel sozialverträglich gestaltet? «Diese gebündelte, vielfältige Kompetenz zu erleben, war eindrücklich», sagt die Germanistin.

Ein Augenöffner war für sie auch der Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der Stadt Zürich. Der Einblick in die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen und Zwänge einer Stadtverwaltung war eindrücklich: «Mir wurde klar, warum sich etwa gewisse Massnahmen zum Klimaschutz nicht so einfach realisieren lassen wie man sich das von aussen vorstellt. Alles braucht eine rechtliche Grundlage und durchläuft einen politischen Prozess.» 

Bessere Lösungen

«Genau darum lohnt sich der transdisziplinäre Ansatz», sagt Eveline Odermatt. Die Sozialwissenschaftlerin am Zentrum für Krisenkompetenz hat das Modul mitkonzipiert, koordiniert und als Dozentin mitgeleitet: «Wenn wir die Perspektiven der verschiedenen Fachrichtungen und der Praxis kombinieren, finden wir bessere Lösungen. Das gilt insbesondere in einer Welt, in der die Herausforderungen immer komplexer und globaler werden.»

Die Perspektive verändern: Markus Meile, Eveline Odermatt und Germanistik-Doktorandin Chiara Diener auf dem Dach des Pavillons in der Bäckeranlage. (Bild: Diana Ulrich)

Aber nicht nur die Lösungen sind besser, auch der Lerneffekt ist grösser. Sobald andere Fachbereiche oder Akteure von ausserhalb der Universität involviert sind, müsse man als Forscherin und Forscher die eigene Rolle umso mehr reflektieren. Was verstehe ich überhaupt unter Krise und Krisenresilienz? Von welchen Werten gehe ich in der Diskussion aus? «Dies muss in der Zusammenarbeit transparent werden», sagt Odermatt.

Eine Frage der Zeit

Sich in eine andere Person hineinzuversetzen, ist dabei die grösste Herausforderung, so die Erfahrung von Germanistin Chiara Diener: «Es braucht viel Zeit, die eigene Sichtweise zu verlassen und die unterschiedlichen Perspektiven auszutauschen – da konnte dieses einsemestrige Modul nur ein Anfang sein.»

Für eine Fortsetzung in der Zusammenarbeit zwischen Universität und Zürich ist Markus Meile offen. Der Stabschef der Krisenführungsorganisation der Stadt Zürich sagt: «Wir waren sofort begeistert von der Anfrage seitens UZH für eine gemeinsame Veranstaltung.» Für ihn hat sich die Teilnahme am noch laufenden Projekt schon jetzt gelohnt. Dabei denkt er an die Diskussionen wie auch die Seminararbeiten, welche die Studierenden zu Themen wie Hitzeminderung, Wohnungskrise oder Konflikte im sozialen Raum verfasst haben: «Sie enthalten Erkenntnisse und neue Gedanken, die unsere Sicht auf die Stadt bereichern.»

Im Frühling 2026 wird das Modul zu urbanen Herausforderungen und Krisenkompetenz ein zweites Mal angeboten. «Die Idee ist ausbaufähig», ist Eveline Odermatt überzeugt – über die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung hinaus etwa zu gesellschaftlichen Organisationen und der Bevölkerung. So könnte das Modul zu einem Vorbild werden für eine neue Art der Lehre, welche die Perspektiven aller Beteiligten bereichert.