«Der Gerichtshof sollte für die Menschen da sein»
«Mater semper certa est» oder zu Deutsch: «Die Mutter ist immer sicher.» Mit diesen Worten räumten die Römer einst jegliche Zweifel daran aus, wer rechtlich die Mutter eines Kindes ist – nämlich die Frau, die es geboren hat.
Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Gültigkeit des uralten lateinischen Rechtsgrundsatzes in Frage gestellt worden. Deutlich macht das beispielhaft der britische Dokumentarfilm «Seahorse» («Seepferdchen»). Darin geht es um Freddy, dem bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde und der mit 23 Jahren begann, offen als Transmann zu leben. Als Freddy Jahre später einen Kinderwunsch verspürt, stellt er die Einnahme von Testosteron ein, bekommt wieder seine Periode und unterzieht sich einer künstlichen Befruchtung mit Spendersamen. Der Titel des Films bezieht sich darauf, dass Seepferdchen die einzigen Tiere sind, bei denen Männchen gebären.
Ist Freddy nun die Mutter oder der Vater? Oder einfach ein «Elternteil»?
Mit solchen Fragen beschäftigt sich UZH-Professorin Alice Margaria. Genauer gesagt untersucht sie, wie die Gerichte mit solchen Fragen umgehen. Sie richtet ihren Blick dabei vor allem auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Und stellt fest: «Eltern, die nicht der Norm entsprechen, werden oft im Stich gelassen.» Sie meint damit vor allem gleichgeschlechtliche Paare sowie Transfamilien wie jene von Freddy.
Alice Margaria, 39, ist seit 2023 Assistenzprofessorin für Rechtsfragen der Reproduktion und Humangenetik an der Universität Zürich. Mit den Themen Familienrecht, Gender und Menschenrechten befasst sich die Italienerin seit ihrem Studium. Zunächst mit Müttern, die anonym gebären.
Gerichtshof veränderte das Bild von Vaterschaft
Später wechselte Margaria die Perspektive und konzentrierte sich in ihrer Forschung auf die Väter. «The Construction of Fatherhood» lautet der Titel ihres ersten Buches. «Ich wollte etwas tun, wovon vor allem Kinder und Mütter profitieren», sagt Alice Margaria und lacht. Sie weiss, dass das widersprüchlich klingt. «Tatsächlich aber gab es viel juristische Forschung zu Mutterschaft und Frauenrechten, aber nicht viel zu Vaterschaft. Dabei braucht es auch die Männer für echte Gleichberechtigung.» Im Buch zeigt Margaria auf, wie der EGMR dazu beigetragen hat, ein neues Bild von Vaterschaft zu formen, das der heutigen Realität näher kommt.
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist zu einem Opfer seines eigenen Erfolgs geworden.
Lange war die Beziehung der Väter zu ihren Kindern im Recht nur indirekt über die Mutter geregelt. Auch das ist womöglich ein Erbe der Römer. Dem Rechtssatz «Mater semper certa est» (wer die Mutter ist, ist sicher) folgte nämlich ein weiterer: «Pater est quem nuptiae demonstrant» – «Vater ist, wer durch die Heirat als solcher erwiesen ist». Ohne diesen Zusatz wäre die rechtliche Vaterschaft aus naheliegenden Gründen immer unsicher. Heute, bei weniger Ehen und mehr Trennungen, mit der Möglichkeit von künstlicher Befruchtung und Gentests, beurteilen Gerichte Vaterschaft differenzierter: So spielen beispielsweise auch die Genetik, die Absicht, Vater zu werden sowie die aktive Beteiligung am Leben des Kindes eine Rolle.
Vater musste sich als Mutter eintragen lassen
Alice Margarias aktuelles Forschungsprojekt trägt den Namen «Who is the Court for?» und untersucht, welche Art von Gerechtigkeit der Gerichtshof in diesen Fragen schafft und für wen. Für die laufende Studie hat sie mit Richtern, Anwälten, Nichtregierungsorganisationen und Betroffenen von Minderheiten gesprochen.
Dabei stellte sich heraus, dass der EGMR seinem Anspruch nicht immer gerecht wird, die Menschenrechte jener zu schützen, die mit Beschwerden an ihn gelangen. Margaria schildert zwei Beispiele. Im Jahr 2023 blitzte ein Transmann aus Deutschland, der eine ähnliche Geschichte wie Freddy aus «Seahorse» hatte, vor dem Gerichtshof ab. Er war offiziell ein Mann, als er ein Kind zur Welt brachte. Die Behörden weigerten sich aber, ihn als Vater zu registrieren. Stattdessen musste er sich als Mutter eintragen lassen, und zwar mit seinem weiblichen Geburtsnamen, den er abgelegt hatte.
Vorwurf der Diskriminierung sollte geprüft werden
In einem anderen Fall klagte ein gleichgeschlechtliches Schweizer Paar, das in die USA gereist war, um durch Leihmutterschaft zu einem Kind zu kommen. Der Vater, der nicht genetisch mit dem Kind verwandt war, musste mehr als sieben Jahre warten, ehe er auch rechtlich als Elternteil anerkannt wurde – eine Änderung des Gesetzes hatte es ihm schliesslich ermöglicht, das Kind zu adoptieren.
In diesem Fall stellte der EGMR eine Verletzung des Rechts des Kindes auf Achtung des Privat- und Familienlebens fest, da dieses so lange auf Rechtssicherheit warten musste. «Solche Fälle sind aus meiner Sicht aber auch diskriminierend», sagt Margaria. Der EGMR gehe jedoch auf den Diskriminierungs-Vorwurf häufig gar nicht ein und prüfe solche Beschwerden meist auf Basis anderer Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Richter:innen würden häufig argumentieren, dass keine gesonderte Prüfung nach Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) erforderlich sei. Margaria ist da anderer Meinung. «Das wäre nicht nur für die Antragstellenden förderlich, sondern auch zur Entwicklung von Menschenrechtsstandards und zum Schutz von Minderheiten.»
Ein Opfer seines Erfolgs
Für wen also ist der Gerichtshof? So banal die Frage klingt, die Antwort ist nicht eindeutig. Die Richter:innen am EGMR würden bei ihren Entscheiden nicht nur an die Lebensgeschichten der Beschwerdeführenden denken, sondern auch an andere Interessengruppen wie die Mitgliedsstaaten des Europarats, die nationalen Gerichte oder Wissenschaftler:innen, sagt Margaria. «Der Gerichtshof sollte aber zuerst für die Menschen da sein.»
Margaria hat auch Verständnis für die Richterinnen und Richter. «Das Gericht ist zu einem Opfer seines eigenen Erfolgs geworden, wie man oft sagt», sagt sie. Durch verschiedene Reformen wurde versucht, das Verfahren effizienter zu gestalten, so dass die grosse Zahl der Anträge bewältigt werden kann: Der Antragsprozess wurde formalisiert, die Frist für die Einreichung einer Beschwerde verkürzt.
Zudem werden heute die meisten Anträge von einem einzigen oder maximal von drei Richter:innen behandelt. Dass ein Gremium von 7 oder gar 14 Richter:innen entscheidet, kommt heute nur noch äusserst selten vor. «Je weniger Mitarbeitende an einem Fall arbeiten, desto weniger Aufmerksamkeit erhält er», sagt Margaria. «Das könnte natürlich einen Einfluss auf die Qualität der Rechtsprechung haben.»
Mehr Inklusion durch Gerichtsentscheide
Margaria ist überzeugt, dass Gerichtsentscheide zu mehr Inklusion führen können. In Schweden beispielsweise führten Fälle vor Gericht dazu, dass Politiker das Gesetz «Children and Parent Code» reformierten. Dieses macht heute etwa möglich, dass Transväter auch in den Augen des Gesetzes Väter sind.
Eine andere immer wieder diskutierte Variante wäre, «Mutter» und «Vater» im Gesetz durch «Eltern» zu ersetzen. Margaria kann dem Vorschlag einige Vorteile abgewinnen. «Das würde sicherlich dazu beitragen, die Geschlechterbinarität zu überwinden und nicht-traditionellen Familienkonstellationen Rechnung zu tragen», sagt sie. «Aber um echte Inklusion und die Anerkennung von pluralistischen Familienformen zu erreichen, braucht es mehr als das. Es erfordert ein tiefgreifendes Umdenken in Bezug auf Elternschaft und Betreuung.»
Ob die Gesellschaft dazu bereit ist, bleibt offen. Und damit auch, wann das römische Rechtsprinzip, das bestimmt, wer Mutter und wer Vater ist, endgültig ausgedient hat.