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Autismus

Wenn die Welt zu laut wird

Menschen im Autismus-Spektrum nehmen die Welt anders wahr als neurotypische Menschen. Doch was heisst das im Alltag, in der Schule, der Medizin oder im sozialen Umfeld? Und wie lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Perspektiven von Betroffenen verbinden? Ein Podium an der UZH brachte Stimmen aus Forschung, Medizin, Pädagogik und gelebter Erfahrung zusammen.
Marita Fuchs
Podiumsteilnehmende in einem Hörsaal an der UZH
Expertise zum Thema Autismus aus Wissenschaft, Praxis und persönlicher Erfahrung: Leah Gerstenkorn, Maya Schneebeli, Andreas Eckert, Rabia Liamlahi, Bea Latal (v.l.n.r.). (Bild: Marita Fuchs)

Wie erleben Menschen mit Autismus die Welt? Über diese Frage diskutierten Expert:innen aus Forschung und Praxis vor Kurzem an der UZH. Auf dem Podium: Rabia Liamlahi, Oberärztin für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich; Maya Schneebeli, Klinische Wissenschaftlerin am Departement für Kinder- und Jugendpsychiatrie der UZH; Andreas Eckert, Professor an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich, und Leah Gerstenkorn, Heilpädagogin und selbst im Autismus-Spektrum. Moderiert wurde das Gespräch von UZH-Professorin Bea Latal vom Universitäts-Kinderspital Zürich. Eingeladen hatten der Universitäre Forschungsschwerpunkt «Adaptive Brain Circuits in Development and Learning» (AdaBD) sowie das Developmental Science Network Zurich.

Zu Beginn hielten die Podiums-Teilnehmenden kurze Impulsreferate. Leah Gerstenkorn sorgte für Heiterkeit im Publikum, als sie bemerkte, sie sei wohl die Einzige, die sich bei ihrer Präsentation strikt an die Vorgabe von zwei Folien gehalten habe. Das sei, so Gerstenkorn trocken, «typisch für Menschen mit Autismus».

Gut im Verbergen

In ihrem Beitrag berichtete die ausgebildete Heilpädagogin von ihrer Arbeit als Kulturdolmetscherin für das Autismus-Spektrum – etwa an Schulen, wo sie Kindern und Jugendlichen erklärt, wie Menschen mit Autismus denken und fühlen. Ihr Ziel: gegenseitiges Verständnis fördern und Vorurteile abbauen. Besonders am Herzen liege ihr die Aufklärung über autistische Mädchen. Denn bei ihnen werde Autismus oft spät oder gar nicht erkannt – nicht, weil die Symptome fehlten, sondern weil sie gut im Verbergen seien. Der Fachbegriff dafür ist «Masking»: ein ständiges Anpassen an soziale Erwartungen – etwa durch das bewusste Imitieren von Mimik, Gestik oder Gesprächsthemen. «Was nach normalem Verhalten aussieht, ist in Wahrheit oft ein enormer Kraftakt», sagte Gerstenkorn. «Das kann zu innerer Überforderung und psychischer Belastung führen.» Auch sie habe lange versucht, sich anzupassen – und kenne den Preis, den das koste.

Vorhersagefehler und sensorische Überforderung

Maya Schneebeli, Klinische Forscherin im Schwerpunkt Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) der UZH, sprach als Forscherin – aber auch als Schwester einer Betroffenen. Ihre wissenschaftliche Arbeit sei somit eng mit persönlichen Erfahrungen verknüpft, sagte sie. Schneebeli beschäftigt sich mit der Frage, warum scheinbar harmlose Alltagssituationen für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) so belastend sein können – und warum ein vorhersehbares, reizarmes Umfeld essenziell ist.

Ein zentrales Stichwort: Vorhersagefehler. «Unser Gehirn arbeitet permanent mit Erwartungen», erklärte Schneebeli. «Es sagt voraus, was als Nächstes geschieht, und gleicht diese Vorhersagen mit der Realität ab.» Bei Menschen mit Autismus scheint dieses System anders zu funktionieren. Schon kleine Abweichungen – ein lautes Geräusch, eine unerwartete Veränderung der Routine – können als überwältigend oder sogar bedrohlich empfunden werden. Das führe nicht nur zu sensorischer Überlastung, sondern erschwere auch soziale Interaktionen oder Lernprozesse. 

Um hier gezielt zu unterstützen, untersucht Schneebeli, wie sich die Gehirnmechanismen bei Autismus durch ein Reizfilterschwächetraining verändern. Das Training wurde vom Start-up SEFIT partizipativ, also zusammen mit Patientinnen und Patienten, entwickelt und wird an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der UZH weiter verbessert. Das Programm nutzt Virtual-Reality-Technologie, um Betroffene in kontrollierten Umgebungen schrittweise an Reize heranzuführen. In virtuellen Szenarien können Geräuschkulissen, Lichtreize oder Bewegungen individuell angepasst werden. Ziel dieses Projektes im Rahmen des Forschungsschwerpunktes AdaBD ist es, die Wahrnehmungsschwelle zu trainieren und so langfristig die Reizverarbeitung zu verbessern. Um die Auswirkungen der Intervention auf die Informationsverarbeitung im Gehirn zu untersuchen, werden vor und nach dem Trainingsprogramm MRT-Aufnahmen gemacht, während die Studienteilnehmende verschiedene Aufgaben lösen.

Den Schlaf messen

Einen anderen Zugang hat Rabia Liamlahi, Oberärztin für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Sie untersucht den Zusammenhang zwischen Schlaf und Autismus – denn bis zu 80 Prozent der Kinder im Spektrum leiden unter Schlafproblemen wie Einschlafstörungen oder häufigem Aufwachen. «Schlaf ist entscheidend für Lernprozesse, für die Verarbeitung von Sinnesreizen – und für die emotionale Regulation», sagte Liamlahi. Schlafmangel könne Symptome wie Hyperaktivität, Aggression oder sozialen Rückzug verstärken – typische Herausforderungen bei Kindern mit ASS.

Zur Analyse nutzt Liamlahi tragbare EEG-Geräte, die nächtliche Schlafmuster aufzeichnen. Sie misst dabei Gehirnaktivität, Augenbewegungen und Muskeltonus, um ein umfassenderes Bild vom kindlichen Schlaf zu gewinnen. Ziel ihrer Forschung im Rahmen des Forschungsschwerpunktes AdaBD sei es, so Liamlahi, die Rolle des Schlafs bei der kindlichen Entwicklung besser zu verstehen – und daraus effektive Interventionen für Kinder mit Autismus abzuleiten.

Für mehr Teilhabe und Verständnis

Andreas Eckert, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie Menschen im Autismus-Spektrum besser verstanden und unterstützt werden können. Im Zentrum seiner Arbeit stehen Kommunikation, soziale Teilhabe und schulische Inklusion. Besonders wichtig sei, so Eckert, dass die Sichtweisen der Betroffenen selbst ernst genommen und einbezogen werden – in Forschung, Bildung und Alltag. Er setze auf alltagsnahe Ansätze: Schulungsprogramme für Lehrpersonen, praxisorientierte Fördermodelle, ein Perspektivwechsel im System. Er rückte damit die Verantwortung der Gesellschaft in den Fokus.

Diagnose – notwendig oder überbewertet?

Im Anschluss an seinen Vortrag kamen alle Podiumsteilnehmenden nochmals gemeinsam ins Gespräch. In der offenen Diskussion wurde deutlich, wie wichtig es ist, unterschiedliche Perspektiven zusammenzubringen – wissenschaftliche, pädagogische und persönliche –, um das Phänomen Autismus ganzheitlich zu verstehen.

Auch über die Rolle der Diagnose wurde diskutiert. Klar wurde: Sie ist komplex – und ambivalent. Eine formelle Diagnose kann Türen öffnen – zu Therapien, Nachteilsausgleichen, gesellschaftlicher Anerkennung. Für viele bringt sie erstmals ein Gefühl von Anerkennung und Selbstverstehen.

Auf eine Frage aus dem Publikum, wie man betroffene Verwandte unterstützen könne, antwortete Leah Gerstenkorn schlicht: «Seien Sie eine gute Freundin. Hören Sie zu. Zeigen Sie Anteilnahme.» Das Podium an der Universität Zürich zeigte, wie viel gewonnen ist, wenn Wissenschaft, Praxis und persönliche Erfahrung sich die Hand reichen. Und wie viel noch zu tun bleibt, damit Menschen mit Autismus nicht nur verstanden – sondern gehört werden.