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Benjamin Ineichen ist Forschungsgruppenleiter am Center for Reproducible Science, einem interfakultären Kompetenzzentrum der Universität Zürich (UZH). Seine Forschungsgruppe hat diesen Sachverhalt in einer Meta-Analyse mit mehr als 120 systematischen Übersichtsstudien – sogenannten Reviews – zu 367 verschiedenen Therapien für 54 menschlichen Krankheiten überprüft.
Fazit: 50 Prozent der an Versuchstieren geprüften Therapien führten zu klinischen Forschungsarbeiten am Menschen, 40 Prozent gar zu randomisierten kontrollierten Studien, d.h. zu klinischen Forschungsarbeiten mit Placebo und doppelter Verblindung, dem Goldstandard in der Humanmedizin. Durchschnittlich dauerte es fünf Jahre von Tierversuchen bis zu Studien am Menschen, sieben Jahre bis zu randomisierten kontrollierten Versuchen und zehn Jahre bis zur behördlichen Genehmigung der Therapie bzw. des Medikaments.
Im Interview ordnet der Studienverantwortliche Benjamin Ineichen die Resultate ein.
Herr Ineichen, Ihre Meta-Analyse zeigt, dass fünf Prozent der im Tierversuch getesteten Therapien für den Menschen zugelassen werden. Ist das viel oder wenig?
Benjamin Ineichen: Das hängt stark davon ab, wie man das Ergebnis interpretiert. Fünf Prozent scheinen auf den ersten Blick wenig zu sein. Doch man muss auch in Betracht ziehen, wie schwierig es ist, neue wirksame Therapien zu entwickeln, und wie gross der Nutzen eines Medikaments für diejenigen ist, die von einer Krankheit betroffen sind.
Nehmen Sie zum Beispiel die Multiple Sklerose, von der weltweit ca. drei Millionen Menschen betroffen sind: Mehrere der heute zugelassenen Medikamente gegen diese Krankheit verdanken sich Tierversuchen. Für MS-Betroffene sind diese Medikamente ein Segen. Anderseits gibt es – abgesehen von Tierversuchen mit Schweregrad 0, also ohne Belastung oder Schmerzen – keine experimentelle Tierforschung ohne Leiden. Das ist ein Fakt. Um zu eruieren, ob ein Versuch angemessen ist oder nicht, braucht es stets eine Güterabwägung zwischen dem potenziellen Nutzen für den Menschen und der möglichen Belastung für das Tier.
Die Hälfte der Tierversuche führte zu klinischer Forschung am Menschen, zwei von fünf gar zu randomisierten kontrollierten Studien. Spricht das nun für Tierversuche als Forschungsmethode, um Therapien für menschliche Erkrankungen zu entwickeln, oder nicht?
Es hat uns überrascht, dass die Raten so hoch sind. Aber diese Zahlen lassen noch keinen Schluss darüber zu, ob Tierversuche für die Entwicklung neuer Therapien geeignet sind oder nicht. Entscheidend ist, wie viele Resultate aus Tierversuchen am Schluss eine medizinische Anwendung beim Menschen finden, und das sind wie gesagt fünf Prozent.
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Dank unseren Ergebnissen können wir nun eine informierte Debatte über Relevanz und Übertragbarkeit von Tierversuchen führen.
Welches Interesse hat Sie geleitet, diese Übersichtsstudie durchzuführen?
Ich bin ursprünglich Arzt und habe auch einige Jahre in der Klinik praktiziert. Danach war ich viele Jahre in der Tierforschung und habe mit Mäusen, Ratten und auch Affen gearbeitet. Weil ich sowohl die Tierforschung als auch die klinische Forschung kenne, habe ich mich früh für das Thema Translation zu interessieren begonnen – also für Fragen, wie im Forschungs- und Entwicklungsprozess eine Therapie vom Tier zum Menschen gelangt und eventuell zugelassen wird.
Um die Qualität von Translationsprozessen beurteilen zu können, braucht es aber eine evidenzbasierte Grundlage, also Zahlen. Eine solche Grundlage fehlte bisher. Meine Forschungsgruppe hat sie nun erarbeitet.
Diese wichtige, ethisch relevante und gesellschaftlich umstrittene Frage wurde bisher gar nie umfassend untersucht?
Für einzelne Krankheiten wie Schlaganfall und Multiple Sklerose hat man diesen Aspekt angeschaut, allerdings bereits vor einigen Jahren. Aber im grösseren Stil wurde die Rate, wie viele Therapien ausgehend von Tierversuchen zu Medikamentenzulassungen führen, bisher nie untersucht.
Gegner und Kritikerinnen von Tierversuchen argumentieren seit Jahren, dass sich Ergebnisse aus Tierversuchen in zu geringem Umfang auf den Menschen übertragen liessen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dieses Argument wurde im Vorfeld der letzten Abstimmung über Tierversuche 2022 häufig verwendet – was mich geärgert hat, denn eigentlich gab es zu diesem Zeitpunkt kaum wissenschaftlich fundierte Zahlen dazu, insbesondere nicht im grösseren Stil. Das war für mich einer der Gründe, diese Studie zu machen.
In vielen Forschungsbereichen stimmen die Resultate aus Tierversuchen gut mit jenen aus frühen Studien am Menschen überein – also mit den klinischen Phasen I und II. Die Phase III ist im Vergleich dazu sehr aufwändig und teuer. Könnte es sein, dass bestimmte Therapien aus wirtschaftlichen Gründen die Zulassung nicht schaffen?
Wir brechen in unserer Studie einen hochkomplexen Prozess auf eine Zahl herunter. Deshalb ist es wichtig, den ganzen Kontext zu sehen. In diesem Prozess sind verschiedene Stakeholder beteiligt: die akademische Forschung und die Pharmaindustrie etwa, also ganz unterschiedliche Interessensfelder. Pharmaunternehmen wägen ab, wieviel die Entwicklung eines Medikaments kostet, ob es einen rentablen Markt dafür gibt oder wie der Patentschutz aussieht. All diese Aspekte spielen ebenfalls eine Rolle beim Entscheid, welche Ergebnisse aus Tier- oder frühen klinischen Studien weiterverfolgt werden. Ökonomische Überlegungen können also durchaus mitverantwortlich sein, dass ein Medikament nicht auf den Markt kommt.
Dass eine vielversprechende Therapie unter den strengen Vorgaben in grossen, randomisierten kontrollierten Studien durchfällt, zeigt sich beispielsweise bei Alzheimer. Woran liegt das?
Es wird schon seit Längerem immer wieder behauptet, dass insbesondere in der Neurologie oder der Krebsforschung die Übertragbarkeit vom Tier zum Menschen schlecht sei. Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass in diesen Bereichen die «low hanging fruits» bereits geerntet wurden. Chronischen Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Amyotropher Lateralsklerose (ALS) liegen pathologisch hochkomplexe Mechanismen zugrunde, die man noch nicht richtig versteht. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Suche nach wirksamen Therapien. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch beim Schlaganfall.
Gibt es weitere Gründe dafür, warum Tierversuche nicht häufiger zu zugelassenen Medikamenten führen?
Ein Grund hat mit der Art und Weise zu tun, wie Studien durchgeführt werden. Grosse randomisierte klinische Studien werden sehr rigoros durchgeführt. So wissen beispielsweise weder die Studienleiterin noch der Proband, wer ein Placebo und wer den Wirkstoff erhält.
In Tierstudien fehlen Verblindung und Randomisierung jedoch häufig. Auch Studienprotokolle werden bisher nur in Ausnahmefällen im Voraus registriert. Darin werden vor Versuchsbeginn die Studienhypothese, die Berechnung der Stichprobengrösse sowie die primäre und sekundäre Zielgrösse genau festgelegt. Diese Massnahmen vermindern falsch positive Resultate und machen die Forschungsergebnisse robuster.
Meines Erachtens würden Tierstudien in der biomedizinischen Forschung enorm davon profitieren, wenn sie sich ebenfalls an den strengen Standards randomisierter klinischer Studien orientieren würden. Dafür bräuchte es eine entsprechende Ausbildung der Forschenden sowie Herausgeber von wissenschaftlichen Journalen, die dies einfordern.
Ein weiterer Grund dafür, dass Tierversuche oft zu anderen Ergebnissen führen als klinische Studien, liegt darin, dass sie mit unterschiedlichen Fragestellungen arbeiten.
Was heisst das konkret?
Tierversuche fokussieren primär auf die biologischen Mechanismen, klinische Studien hingegen auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen einer Therapie.
Sind hier Angleichungen nötig?
Eine Angleichung wäre vermutlich möglich, aber nicht wünschenswert. Eine Ratte hat kein Alzheimer und keine Multiple Sklerose. Die Wissenschaft modelliert eine menschliche Krankheit in einem Tier. Es handelt sich also um ein künstliches Szenario, keine Eins-zu-Eins-Abbildung einer menschlichen Krankheit. Wie gut ein Medikament für Schlaganfall in der Ratte wirkt, ist weniger relevant für den Menschen als die Frage, wie das Medikament genau funktioniert. Deshalb ist es meiner Ansicht nach durchaus sinnvoll, in Tierversuchen und klinischen Studien mit unterschiedlichen Fragestellungen zu arbeiten.
Was läuft Ihrer Ansicht nach gut in der Forschung mit Tieren?
Die Forschenden sind sich der geringen Übertragbarkeit bewusst und wissen, dass man etwas ändern muss. Es gibt auch viele internationale Initiativen und Allianzen zur Verbesserung der Qualität von Tierstudien. Ich denke, diese Entwicklung braucht einfach Zeit.
In Tierstudien und klinischen Prüfungen werden teilweise Zielgrössen analysiert, die für die reale Situation der Patienten nicht relevant sind. Kritisieren sie das?
Ja. In Tierversuchen werden zum Teil Zielgrössen gewählt, die für den Menschen weniger oder nicht relevant sind. Wenn in einer Ratte ein Medikament gegen Schlaganfall getestet wird, ist es vermutlich relevanter, die Feinmotorik des Tieres zu beobachten, anstatt die Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark zu zählen, die sich erholt haben.
Planen Sie weitere Forschungsarbeiten zu diesem Thema?
Aktuell beschäftigt sich mein interdisziplinäres Team mit der Translation bei neurologischen und psychiatrischen Krankheiten. Wir wollen systematisch für jede einzelne Therapie, die jemals im Tier getestet wurde, wissen, ob sie auch am Menschen geprüft wurde, ob sie klinische Phase I, II oder III erreicht hat, und ob sie am Schluss zugelassen wurde. Wahrscheinlich sind das Zehntausende Medikamente und Therapien, die wir analysieren werden.
Ziel ist, dank der grossen Studienzahl trotz all der Variabilität der einzelnen Forschungsarbeiten Faktoren zu erkennen, die mitverantwortlich dafür sind, ob ein Medikament die Zulassung erhält oder nicht. Auf dieser Datengrundlage könnte der ganze Prozess gezielt optimiert werden.
Ist die Erfolgsrate bei Forschungsmethoden, die ohne Tiere auskommen, höher?
Eigentlich wollten wir auch die Translationsrate von tierversuchsfreien Forschungsmethoden untersuchen, etwa im Bereich Medtech. Doch das ist extrem schwierig. Denn es gibt keine zentralen Register, oder es gibt keinen Zugriff auf die Daten.
Für die Behauptung, tierversuchsfreie Methoden seien besser auf den Menschen zu übertragen, fehlt also jegliche wissenschaftliche Evidenz?
Mir sind jedenfalls keine Zahlen dazu bekannt.
Zum Schluss noch eine Frage zur Grundlagenforschung: Was trägt Ihre Studie zur Klärung der Frage bei, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen Tierversuche in der Grundlagenforschung zugelassen werden sollen?
Meiner Ansicht nach ist es in der in der biomedizinischen Grundlagenforschung in den meisten Fällen richtig, dass Tierversuche einen medizinischen Nutzen haben sollten. Doch dieser Nutzen kann häufig auch indirekt sein und ist deshalb sehr schwierig zu messen – und wurde in unserer Studie auch nicht berücksichtigt.
Für die nächste Abstimmung über ein Verbot von Tierversuchen werden derzeit Unterschriften gesammelt. Was trägt Ihre Studie zur gesellschaftlichen Debatte bei?
Dank unseren Ergebnissen können wir nun eine informierte Debatte über Relevanz und Übertragbarkeit von Tierversuchen führen. Unsere Studie zeigt auch, wie hoch die Translationsrate für verschiedene Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, neurologische, muskuloskelettale und psychische Krankheiten ist. Wir haben jetzt robuste Zahlen für diese Diskussion.