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Cancel culture

Wissenschaftsfreiheit, Moral und Wahrheit

Letzte Woche sprachen die Professoren Barbara Zehnpfennig und Tim Henning im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Wer darf bei uns reden?». Beide haben sich intensiv mit Fragen zur Wissenschaftsfreiheit befasst und sind sich in vielen Punkten einig, beurteilen jedoch die moralische Kritik an wissenschaftlichen Positionen kontrovers.
Marita Fuchs

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Wissenschaft sollte ergebnisoffen sein und keine politische Agenda verfolgen – Barbara Zehnpfennig und Tim Henning in der Aula der UZH. (Bild: Marita Fuchs)

An den Universitäten entsteht ein neues diskursives Klima: Aktivistische Gruppen wollen Vorlesungen oder Veranstaltungen mit unliebsamen Rednern unterbinden; Dozierende werden diffamiert; es wird Druck auf Universitätsangehörige ausgeübt, unliebsame Themen zu vermeiden. So etwa an der Columbia-Universität in New York. Im April campierten dort Studierende als Teil der propalästinensischen Proteste. In Folge kam der Lehrbetrieb in Präsenz zum Erliegen. Das zeige eine erschreckende Hilflosigkeit bei der Frage, welche Art von Äusserungen Wissenschaftler:innen einander, Hochschulleitungen ihren Mitarbeitenden, Dozierenden ihren Studierenden zubilligen sollen, wollen oder können, sagte UZH-Professor Christoph Halbig, der den Abend in der Aula moderierte. Auch in der Schweiz, so Halbig, sei es aufgrund der Äusserungen einzelner Wissenschaftler:innen über die Terroranschläge der Hamas nicht etwa zu wissenschaftlichen Debatten, sondern zu Kündigungen und zur Auflösung und Neuausrichtung eines Instituts gekommen. «Eigentlich sollte es anders sein, Wissenschaft braucht Freiheit und eine freie Gesellschaft braucht Wissenschaft», sagte Halbig.

Zu der Frage, wie es nun um die Wissenschaftsfreiheit bestellt ist, und ob dieser Freiheit auch Grenzen gesetzt werden müssten, äusserten sich die Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau, und Tim Henning, Professor an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

Forschende nicht bedrängen

Anders als beim alltäglichen Denken, das subjektiv geprägt sei, sei der wissenschaftliche Weltzugang ein anderer, sagte Zehnpfennig. «Der Wissenschaft reicht die subjektive Meinung nicht, sie zielt auf Erkenntnis.» Wissenschaftliche Freiheit habe eine innere und äussere Dimension. «Die innere bedeute, dass der Wissenschaftler sich von Vorurteilen befreien müsse. Er könne zwar Hypothesen entwickeln, müsse sich aber auch wieder davon lösen können», sagte die Professorin. Die äussere Dimension dagegen bestehe darin, dass der oder die Forschende nicht bedrängt werden dürfe, in eine bestimmte Richtung zu forschen. «Man muss auch darüber forschen dürfen, was gesellschaftlich umstritten ist, oder wo man meint, schon eindeutige Antworten gefunden zu haben.»

Inzwischen werde das jedoch von politischen Aktivisten negiert. In den Hochschulen würde gelegentlich mit neueren Theorien die geistigen Grundlagen für Aktivismus geschaffen. «Diese Theorien verstehen sich als emanzipatorisch, das heisst, sie haben einen politischen Auftrag», erklärte Zehnpfennig. Deren Vertreter:innen verstünden sich als Sprachrohr von Gruppen wie etwa der Frauen oder der Transgender-Menschen, denen zu den Rechten verholfen werden sollen, die ihnen bisher vorenthalten wurden. Die Macht der bisherigen Machthaber soll somit gebrochen werden, dazu gehöre, dass man sie nicht mehr zu Wort kommen liesse. «So hat sich die Cancel Culture entwickelt». Aber – so das Plädoyer der Rednerin – «Wissenschaft muss ergebnisoffen sein!» Wenn man dagegen eine politische Agenda verfolge, sei das Ziel festgelegt. Das sei keine freie Wissenschaft mehr.

Cancel Culture canceln

Zehnpfennig sprach am Ende ihres Vortrags über die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Auch in der Wissenschaft gebe es Grenzen. So habe der Gesetzgeber das Recht, zum Beispiel aus ethischen Gründen, bestimmte Forschung zu untersagen. Auch Gewissensentscheide des einzelnen Forschenden führe zur Einschränkung, wenn er zum Beispiel sehe, dass seine Forschung grauenhafte Vernichtungswaffen ermöglichen könnten. Eine Einschränkung durch Cancel Culture aber sei nicht zulässig. Das führe zu einer Tabuisierung bestimmter Themen, wirke sich negativ auf die Wissenschaft als Ganzes und auf das Klima an Universitäten aus. «Wenn man weiss, dass man mit einer Hetzjagd rechnen muss, forscht man nicht weiter. Dieses Klima führt zu Duckmäusertum», schloss Zehnpfennig ihre Ausführungen.

Konsequenzen von Forschung mitbedenken

Tim Henning stimmte in vielen Punkten Zehnpfennigs Ausführungen zu. Er ging dann vertieft auf die Frage ein, ob moralische Gründe es rechtfertigen, ein wissenschaftlich gewonnenes Resultat zurückzuweisen. Er bezog sich auf das «Pragmatic Encroachment». Der Begriff bezieht sich auf die Erkenntnistheorie und bedeutet, dass Wissenschaft nicht nur von der wissenschaftlichen Evidenz abhänge, sondern auch davon, wie wichtig die Information sei und welche gesellschaftlichen Konsequenzen sie haben könnte. Beispielsweise könnten die Anforderungen an den Beweis für eine Theorie strenger sein, wenn sie schwerwiegende gesellschaftliche Folgen hätten.

Diese Aussagen enthalten wichtige Implikationen für die Wissenschaftsfreiheit und die Verantwortung von Wissenschaftlern, da sie die Bedeutung von ethischen und sozialen Überlegungen in der Forschung hervorhebt. Henning betonte, dass Wissenschaftler nicht nur nach der Wahrheit streben, sondern auch die potenziellen Auswirkungen ihrer Arbeit auf die Gesellschaft berücksichtigen müssten. Das verdeutlichte er an einem Beispiel: Die Forschung der US-Amerikaner Charles Murray und Richard Herrnstein hatte unter anderem die These vertreten, dass Schwarze Menschen einen genetisch bedingten geringeren IQ aufwiesen als weisse. Laut Henning sind diese Thesen von Herrnstein und Murray zugleich epistemisch als ungerechtfertigt und moralisch als fahrlässig kritisierbar. Sein Fazit: Es gebe guten Grund, die Moralkeule im wissenschaftlichen Diskurs zu kritisieren, aber nicht alle moralische Kritik sei als illegitimer Moralismus abzutun.

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