Navigation auf uzh.ch
Befasst man sich mit Gottfried Keller und seinen Gedanken zu Plagiat und Originalität, ist man überrascht, wie aktuell seine Überlegungen dazu waren. Schnell wird klar, dass die heutigen Diskussionen keineswegs neu sind und auch schon Autoren wie Gottfried Keller umhertrieben. Das macht der Beitrag aus dem Sammelband der Literaturwissenschaftlerin Ursula Amrein klar. Wie sie beschreibt, wurde Keller zum einen selbst Opfer von Plagiatoren, zum anderen lebte er gleichzeitig allerdings auch selbst ständig in der Angst, unbeabsichtigt ein Plagiator zu werden und stellte sich dabei die Frage, was man überhaupt noch als «neu» bezeichnen kann – eine Frage, die heute angesichts des Internets und KI hochaktuell ist.
Doch was galt vor über hundert Jahren als Plagiat? Ein klarer Fall von Plagiat lag für Keller beispielsweise dann vor, wenn jemand sich bewusst, bösartig und gezielt die Ideen von jemand anderem zu eigen machte. «Für ihn handelte es sich um ein Plagiat, wenn aus einer Machtsituation oder einem falschen Freundschaftsverhältnis heraus gehandelt wurde», so Amrein, «er bezeichnete das Plagiieren als rücksichtslose Räuberei». Diese Form der Ausbeutung musste Keller am eigenen Leib erfahren; er erlebte schon als junger Maler, dass Leute seine Ideen für die ihrigen ausgaben und ihn damit ins Abseits schoben.
Seine Erfahrungen reflektierte Keller unter anderem in seinem literarischen Werk. Im «Grünen Heinrich» erlebt der Künstler Heinrich selbst eine unschöne Plagiatsgeschichte. Die Situation im Roman entsteht durch ein klassisches Ausbeutungsverhältnis, das mit einem Missbrauch von Vertrauen verbunden ist. Heinrich wird als junger Schüler von seinem Lehrmeister plagiiert, der seine Bildidee selbst viel schöner als der Schüler umsetzt und das Bild an einer Kunstausstellung als eigenes Werk ausgibt. Den Schüler trifft der Raub seiner Idee wie ein Schlag und von da an geht es mit seiner Karriere nur noch bergab. «Spannend ist, dass Keller diese Szene später in der zweiten Fassung noch einmal verschärft. Während in der ersten Fassung lediglich die Freunde von Heinrich das Plagiat entdecken, sind es in der zweiten Fassung die Kollegen aus dem Künstlerestablishment, die den Betrug erkennen und gleichzeitig decken», erklärt Ursula Amrein die demütigende Szene.
Heute wird mehrheitlich darüber diskutiert, was ein Plagiatsvorwurf bei jemandem auslösen kann, der bezichtigt wird, plagiiert zu haben.
Aus dieser Textstelle wird für Amrein klar: «Keller schreibt aus der Erfahrung von jemandem, der selbst plagiiert worden ist und aus der Sicht von jemandem, der weiss, was in einem ausgelöst wird, wenn man sieht, dass andere die eigenen Ideen gestohlen haben und unmittelbar davon profitieren, während man selbst leer ausgeht.»
Vergleicht man die Gedanken bei Keller mit aktuellen Plagiatsdebatten, fällt eine Verschiebung in der Akzentuierung auf. «Heute wird mehrheitlich darüber diskutiert, was ein Plagiatsvorwurf bei jemandem auslösen kann, der bezichtigt wird, plagiiert zu haben. Dies ist eine wichtige Perspektive und richtig, da ungerechtfertigte Plagiatsvorwürfe Karrieren zerstören können», hält Ursula Amrein mit Blick auf jüngste Beispiele fest. Die andere Seite hingegen gehe gerne vergessen. Was ein Plagiat mit den Plagiierten selbst mache, erweise sich oft als blinder Fleck. Keller hat diesen Aspekt eindrücklich herausgearbeitet. Es lohnt sich deshalb, sich auf seine Ausführungen einzulassen. Diese tragen dazu bei, ein nicht zuletzt auch im wissenschaftlichen Diskurs verdrängtes Problem zu beleuchten.
Irgendwoher müssen die Informationen und Ideen doch stammen, liesse sich jetzt argumentieren. Auch mit diesen Gedanken hat sich Keller befasst. Er hat selbst eine Zeit lang in der Werkstatt des Vedutenmalers Peter Steiger Kunstwerke kopiert und war teilweise von gewissen literarischen Werken wie Lessings «Emilia Galotti» so fasziniert, dass er in einen Nachahmungsrausch kam - er schöpfte also auch aus den Ideen anderer. «Hier handelt es sich allerdings nicht um ein Plagiat, sondern um ein imitatorisches Verfahren, über das der Autodiktat zu seiner eigenen Schreibweise findet. Es war Keller klar, dass er nicht ausserhalb einer Tradition arbeiten konnte, und er kannte das Prinzip der Intertextualität», so Amrein. Das heisst, er sah seine literarischen Texte immer auch in Verbindung zu anderen literarischen Texten. Mit dieser Haltung war er seiner Zeit voraus. Keller wusste zudem um die Vorteile bekannter literarischer Formen. So arbeitete er viel mit populären Erzählmustern und Erzählstoffen, denen er aber eine überraschende Wendung gab und die er in etwas Neues verwandelte.
Diese Technik ist auch heute noch beliebt und das Konzept von Intertextualität längst etabliert. Was ändert sich also, wenn heute an Stelle eines Menschen die KI bereits bekannte Formen und Inhalte verwendet und in etwas Neues umwandelt? So entsteht mit gekonntem Prompting ein Gedicht im Stil von Goethe, ein neuer Popsong mit den neusten Hits der Charts als Vorbild oder ein Bild der eigenen Katze in Manier von Pablo Picasso. Hier stellen sich wiederum neue Fragen, die mit dem Urheberrecht, dem Nachahmen und dem Gedanken von Originalität zusammenhängen. Von wem stammt ein Lied, das von einer KI generiert wurde? Ist das nun authentische Kunst, Traditionsbildung, Nachahmung oder gar ein Plagiat? Auf diese Fragen hätte Keller wohl auf Anhieb auch noch keine Antwort.