Kennengelernt haben sich André Meyer-Baron und Carlo Cervia-Hasler vor rund einem Jahr an einem Netzwerkanlass der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH). Im Gespräch merkten sie schnell, dass sich ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und Interessen ideal ergänzen.
André Meyer-Baron forscht am Institut für Informatik an produktivitätssteigernden Ansätzen für Wissensarbeiter:innen. Er hat u.a. eine digitale Plattform entwickelt, die Teams dabei unterstützt, eine bessere Balance zwischen konzentrierter Arbeit und Teamarbeit zu finden. Carlo Cervia-Hasler arbeitet an der Klinik für Immunologie des Universitätsspitals Zürich und der Universität Zürich an Biomarkern zur Erkennung von Long Covid im Blut. Der ausgebildete Arzt und Forscher hat einen Score entwickelt, mit dem sich das individuelle Risiko, an Long Covid zu erkranken, abbilden lässt.
«Ich bat Carlo damals um Rat für einen an Long Covid erkrankten Freund», erinnert sich Meyer-Baron. Aus dem Gespräch entstand eine spannende disziplinenübergreifende Zusammenarbeit, die in der Entwicklung einer digitalen Plattform für Long-Covid-Patient:innen mündete. Dafür erhielten die beiden erfolgreichen Nachwuchswissenschaftler kürzlich den UZH Postdoc Team Award.
Gemäss Schätzungen leiden in der Schweiz rund 200 000 Menschen an Long Covid – nach wie vor existiert keine medikamentöse Therapie. Deshalb wenden viele Patient:innen derzeit die Strategie des sogenannten «Activity Pacing» an, um ihre Symptome in Schach zu halten. Dabei planen und dosieren sie ihre körperlichen Aktivitäten genau, um eine Überanstrengung, so genannte «Crashes», zu vermeiden. Die Betroffenen messen beispielsweise ihre Schlafdauer, ihre Körpertemperatur oder notieren die Symptome und körperlichen Aktivitäten in ein Tagebuch. All dies ist allerdings schwierig manuell zu bewerkstelligen, wenn man sich in einem Zustand von Müdigkeit, Unwohlsein und potenzieller kognitiver Beeinträchtigung befindet, der bei Betroffenen oftmals vorkommt.
«Bisher fehlen digitale Tools, die das Activity Pacing wirksam unterstützen, auch wenn Sensoren, die dafür wichtige Daten liefern könnten, bereits existieren», erklärt Meyer-Baron, dessen Forschung auch den Einsatz biometrischer Sensoren umfasst. So überwachen beispielsweise Smartwatches körperliche Aktivitäten und verschiedene Gesundheitsdaten. «Jedoch sind derzeitige Applikationen auf eine Aktivitätssteigerung ausgerichtet», merkt Cervia-Hasler an. Deshalb entschieden sich die beiden Wissenschaftler eine eigene Anwendung zu entwickeln, woraus «MindfulPacer» entstanden ist.
Die innovative digitale Plattform umfasst eine Smartwatch-Anwendung sowie eine Begleit-App auf dem Smartphone. Die Smartwatch überwacht kontinuierlich die Herzfrequenz und die Schrittzahl der Träger:innen und liefert sofortiges Feedback. Die App visualisiert die biometrischen Daten auf intuitive Weise. Die Nutzer:innen können auf Basis dieser Informationen persönliche Grenzwerte, wie maximale Herzschläge pro Minute oder tägliche Schrittzahl, festlegen. Diese Grenzen sind mit einem Warnsystem verknüpft: Ein grünes Display auf der Smartwatch signalisiert normale Werte, während Orange und Rot auf eine Annäherung an oder Überschreitung der festgelegten Grenzwerte hinweist. In diesem Fall vibriert die Smartwatch, und es ertönt ein Alarm. Zusätzlich werden die Nutzer:innen aufgefordert, das Ereignis, das den Alarm ausgelöst hat und ihre persönlichen Empfindungen in der App zu notieren.
Die Alarmfunktion der App dient dazu, dass die Nutzer:innen ihre Aktivitäten reflektieren und ein besseres Bewusstsein für ihre Symptome gewinnen. Durch die Einbindung der zusätzlichen persönlichen Informationen in die Datenvisualisierung verstehen sie ihre eigenen Grenzwerte besser und können diese kontinuierlich anpassen. «MindfulPacer erleichtert es Menschen mit Long Covid, Muster in Herzfrequenz und Schrittanzahl zu erkennen, was ihnen hilft, ihre tägliche physische Belastung zu regulieren. Dadurch gewinnen sie mehr Kontrolle über ihre Erkrankung», fasst Cervia-Hasler zusammen. Meyer-Baron fügt hinzu: «MindfulPacer ist ein einfaches Hilfsmittel, das zur Selbsthilfe anleitet.»
Derzeit ist die digitale Plattform noch in der Prototyp-Phase und wird von einer Handvoll Betroffenen genutzt. Auf Basis ihres Feedbacks haben die UZH-Forscher MindfulPacer kontinuierlich weiterentwickelt. Um die digitale Plattform optimal auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Patient:innen abzustimmen, arbeiteten sie zudem eng mit der Patientenorganisation Long Covid Schweiz zusammen. «Ihre Rückmeldungen waren für uns extrem aufschlussreich», betont Meyer-Baron.
Für ihn ist die nutzerzentrierte und iterative Entwicklung digitaler Anwendungen Routine, während es für seinen Kollegen ein neuer Ansatz ist: «Normalerweise arbeite ich mit grossen Datenmengen von Patienten: Es war eine bereichernde Erfahrung, sich auf die Perspektive weniger Personen zu konzentrieren und ihr Feedback kontinuierlich zu integrieren», reflektiert Cervia-Hasler. Beide sind sich einig, dass der gegenseitige Lernprozess sehr fruchtbar war. «Es ist sehr befriedigend, dass wir etwas entwickeln konnten, das den Patient:innen sofort hilft.»
Das durchweg positive Feedback der ersten Testpersonen bestärkt die beiden Nachwuchswissenschaftler darin, MindfulPacer der breiten Bevölkerung anzubieten. Nach Erhalt der ethischen Freigabe wollen sie die Plattform umfassend hinsichtlich ihrer Anwenderfreundlichkeit und Wirksamkeit in der Praxis evaluieren. Parallel dazu ist die Veröffentlichung einer ersten öffentlichen Testversion geplant. Zusätzlich arbeiten die Forscher zusammen mit Long Covid Schweiz an der Integration eines Online-Forums in MindfulPacer, damit die Nutzer:innen Ihre Erfahrungen austauschen können.
Zur Finanzierung dieser nächsten Schritte haben sie sich für einen Outreach Call bei der DIZH beworben. Auf die Frage, ob sie ihre Plattform kommerzialisieren wollen, winken die beiden ab: «Unser Hauptanliegen ist es, einen positiven Beitrag für möglichst viele Betroffene zu leisten und Mindfulpacer gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln», sagt Meyer-Baron.