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Ausstellung

Seenomaden aus Patagonien setzen neue Zeichen

Die indigene Gruppe der Kawésqar lebte über 6000 Jahre im Ökosystem Patagoniens, ohne es zu zerstören. Sie verstehen Pflanzen und Tiere eher als Verwandte. Daraus lässt sich lernen. Im Völkerkundemuseum der UZH kann man jetzt mehr über die Kawésqar erfahren und sich auch mit der traurigen Geschichte der Völkerschauen auseinandersetzen.
Marita Fuchs
Eine Gruppe Kawésqar (Bilder zVg)
Eine Gruppe Kawésqar, 1895

Die Kawésqar pflegen keine üblichen Begrüssungsformeln wie «Hallo, wie geht's». Diese Besonderheit ist eng mit ihrer ursprünglichen Lebensweise als Seenomaden verbunden. In ihren Booten aus Tierhäuten navigierten sie einst entlang der Fjorde Patagoniens, auf der Suche nach Fischen, Meeresfrüchten und Wildtieren. Da sie meistens auf dem Wasser unterwegs waren, waren Begegnungen mit anderen selten. Doch wenn solche Treffen stattfanden, tauschten sie keine kurzen Begrüssungen aus, sondern setzten sich stattdessen zusammen und erzählten Geschichten – Geschichten, die sie in den Wochen, Monaten, manchmal Jahren, in denen sie sich nicht begegnet waren, erlebt hatten: «Wie war Eure Navigation?», lautete die Begrüssungsfrage. «Wir haben eine orale Kultur. Der mündliche Austausch ist für uns sehr wichtig», betont Francisco Gonzáles, Präsident der Fundación Pueblo Kawésqar, während eines Gesprächs im Völkerkundemuseum der UZH.

Gute Artenschützer

Celina Llanllán Catalán
Celina Llanllán Catalán, eine Meisterin des Kawésqar-Kunsthandwerks, sammelt Binsenpflanzen.

Heute leben noch etwa 500 Kawésqar in Chile. Ihre nomadische Lebensweise wurde hauptsächlich durch ein Leben in Städten abgelöst. Sie wurden ab 1920 unfreiwillig dorthin umgesiedelt, weil der chilenische Staat allen Bürger:innen Schulen, Spitäler und Kirchen zur Verfügung stellen wollte. Lange wurde die Kultur der Kawésqar von der chilenischen Regierung unterdrückt. Gonzáles`Grossmutter erzählte ihrem Enkel von Schlägen, wenn sie in der Schule mit ihren Freundinnen Kawésqar sprach. Die heutige junge Generation will ihre ursprüngliche Kultur und Sprache aber nicht vergessen. «Über viele Jahrhunderte hinweg haben unsere Vorfahren in enger Symbiose mit der unberührten Wildnis dieser Region gelebt und ihre traditionelle Lebensweise an die natürlichen Gegebenheiten angepasst, das wollen wir bewahren», sagt Gonzáles.

Die Natur spielt auch heute noch eine zentrale Rolle im kulturellen, spirituellen und wirtschaftlichen Leben der Kawésqar. Sie betrachten die Landschaft und die Tiere nicht nur als Ressourcen, sondern als gleichwertige und respektierte Partner. Ihr traditionelles Wissen über die Pflanzen und Tiere, die Ökosysteme und das Wetter ist über Generationen weitergegeben worden und ermöglichte es ihnen, in dieser meist rauen und abgelegenen Umgebung zu überleben. Ein Teil dieses Wissens – und was noch davon bekannt ist – zeigt eine Delegation der Kawésqar nun im Zürcher Völkerkundemuseum.

Francisco González

Viele Leute kennen die Mapuche in Chile, wir Kawésqar sind bis jetzt recht unbekannt.

Francisco González
Präsident der Stiftung Pueblo Kawésqar

Menschunwürdiges Spektakel

Doch warum in Zürich? Die Kawésqar und die Schweizer Stadt verbindet eine schaurige Vergangenheit: Als «Die Wilden von den Feuerlandinseln» starben 1882 in Zürich fünf Kawésqar, die Teil einer Völkerschau waren. Im Jahr 1881 waren zuvor elf von ihnen in Chile im Auftrag des bekannten Tierhändlers Carl Hagenbeck verschleppt worden, um in mehreren europäischen Städten und zuletzt in Zürich zur Schau gestellt zu werden. Die Shows fanden damals im Plattentheater am Zürichberg statt. Der Zürcher Veranstalter hatte ein offenes Feuer auf der Bühne installiert, um das herum die «Wilden von den Feuerlandinseln», wie es im Anzeigentext hiess, sich niederliessen und ein möglichst natürliches Leben führen sollten. Doch die Gruppe erkrankte schon bald. Bis Ende März waren fünf an Masern und Lungenentzündung gestorben. Nur vier Personen sollten am Ende lebend in ihre Heimat zurückkehren. Die Leichen der Verstorbenen wurden ans Anatomische Institut der Universität Zürich gebracht und später ans Anthropologische Institut. Dort lagerten die Gebeine bis zum Januar 2010.

Sie wurden im selben Jahr von der Universität Zürich an Nachfahren in Chile repatriiert. Die unglückliche Geschichte der Kawésqar wurde durch die Zürcher Autorin Rea Brändle ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Sie hat den Fall in ihrem 1996 erschienenen Buch «Wildfremd, Hautnah: Völkerschauen und Schauplätze Zürich 1880–1960» minutiös aufgearbeitet.

Neue Begegnungen

Als Vertreter einer Delegation der Kawésqar will Gonzáles der bitteren Vergangenheit heute etwas entgegensetzen und Neues entstehen lassen. Mit einer Ausstellung, Workshops und Talks wollen die Kawésqar die vielfältigen Aspekte ihrer Kultur der Zürcher Bevölkerung zeigen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Das Völkerkundemuseum der UZH ist dem Wunsch der Delegation aus Chile entgegengekommen. «Wir mussten etwas improvisieren, konnten aber in kurzer Zeit die Ausstellung konzipieren und umsetzen», sagt Maike Powroznik, Kuratorin am Völkerkundemuseum.

Auch mithilfe der chilenischen Botschaft in Bern wurde die sehenswerte Ausstellung auf die Beine gestellt, die bis jetzt auf aussergewöhnlich grosses Interesse der Zürcher Bevölkerung und der Medien stiess. Francisco Gonzáles ist sehr dankbar für diese Resonanz. «Viele Leute kennen die Mapuche in Chile, wir Kawésqar sind bis jetzt recht unbekannt. Vielleicht wird sich das nun ändern und vielleicht bekommen wir durch die öffentliche Aufmerksamkeit auch im heimatlichen Chile mehr Anerkennung und Unterstützung», sagt er.

Vom 29. August bis 3. September können interessierte Besucherinnen und Besucher die Ausstellung noch anschauen und an verschiedenen Workshops oder Talks teilnehmen. So zum Beispiel an Kursen im traditionellen Korbflechten. Während die Besucherinnen und Besucher nach Anleitung mit Binsen arbeiten, kommen sie mit den Kawésqar ins Gespräch. Ganz im Sinne der Tradition – ohne Hallo.