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Glaubenssätze Ökonomie

Macht Konsum glücklich?

Auch Ökonomen glauben an gewisse Dinge. Etwa dass die Marktwirtschaft für Wohlstand für alle sorgt oder ein friedliches Zusammenleben der Nationen befördert. Wirtschaftswissenschaftler Thorsten Hens hat fünf Glaubenssätze der Ökonomie zusammengestellt. Im Gespräch erklärt und hinterfragt er sie zugleich.
Thomas Gull
Konsum kann glücklich machen – aber auch zur Droge werden. (Bild: istock/Moyo Studio)

Herr Hens, Sie haben fünf Glaubenssätze formuliert, die fundamentale «Wahrheiten» des wirtschaftlichen Handelns wiedergeben. Wie entstehen solche Paradigmen?

Thorsten Hens: Sie basieren auf unserer Forschung. Wir erforschen die Wirtschaft einerseits empirisch, andererseits entwickeln wir Modelle und Theorien, die auf dieser Forschung basieren. Das Ziel ist, zu verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert und wie sich das auswirkt. Ich habe fünf zentrale Theorien als «Glaubenssätze» formuliert.

Und stets ein «Aber» hinzugefügt. Weshalb?

Hens: Der Glaubenssatz gibt wieder, was die Mehrheit der Ökonominnen und Ökonomen für richtig halten. Es gibt aber immer auch andere Meinungen. Ein grosses Thema ist dabei, ob das markwirtschaftliche System, an dem wir uns orientieren, gerecht ist oder ungerecht. Geschätzt etwa ein Drittel meiner Kolleginnen und Kollegen sind der Meinung, die Wirtschaft müsse anders, und damit aus ihrer Sicht gerechter, organisiert werden.

Offenbar ist der Grund, auf dem die Glaubenssätze stehen, nicht wirklich fest. Was bedeutet das für die Wirtschaftswissenschaft?

Hens: Wir müssen wachsam bleiben und die Modelle anpassen, falls sich zeigt, dass sie nicht mehr funktionieren. Und wir müssen gewisse Dinge verteidigen oder für sie kämpfen, wie etwa die Lohngleichheit, denn die Wirtschaft ist kein Selbstläufer. Zudem sollten wir nicht naiv sein, etwa indem wir einfach daran glauben, dass es die Kräfte des Marktes von allein zum Guten richten werden.

1 Konsum macht glücklich

Das Ziel der Wirtschaft ist, für einen möglichst hohen Lebensstandard der Menschen zu sorgen. Zum Lebensstandard gehören die Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen oder Kleidung, aber auch alle anderen Konsumwünsche wie Mobilität, Kommunikation oder Spiele. Je mehr man von allem hat, desto glücklicher ist man.

Aber: Man gewöhnt sich schnell an den aktuellen Lebensstandard und nur eine weitere Steigerung macht glücklich. Somit ist der Versuch, durch Konsum glücklich zu werden, ein permanenter Wettlauf, der nie zum Ziel führt. Für die Wirtschaft ist das allerdings gut, denn unsere Unzufriedenheit, das Streben nach immer mehr, hält sie am Laufen. Dazu gehört, dass wir uns ständig mit anderen vergleichen. Das ist fatal, denn das nächste Smartphone macht uns höchstens für kurze Zeit glücklicher. Negativ wirkt sich unser (Über-)Konsum auf die Umwelt aus. Unser Wirtschaftssystem ist darauf angelegt zu wachsen, womit immer mehr Ressourcen verbraucht werden.

Wenn das Hamsterrad des Konsums nicht glücklich macht, welche Alternativen gibt es dazu?

Hens: Wir müssen wissen, dass es andere Dinge sind, die uns glücklich machen, wie Freundschaften, die Familie oder die Religion – das sage ich als gläubiger Christ und Finanzchef der Reformierten Kirche des Kantons Zürich.

2 Die Wirtschaft führt zu Wohlstand für alle

Bis zur Industrialisierung stagnierte das Pro-Kopf-Einkommen. Wann immer es technologischen Fortschritt gab, wurde der Wohlstandseffekt durch ein höheres Bevölkerungswachstum wieder zunichte gemacht. Mit der Einführung der Marktwirtschaft und der Industrialisierung ist das Pro-Kopf-Einkommen geradezu explodiert.

Aber: Es gibt heute noch grosse Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen – innerhalb von Ländern und im internationalen Vergleich.

Das Wohlstandsversprechen für alle ist eine Illusion?

Hens: Das kann man so pauschal nicht sagen. Wenn die Marktkräfte freigesetzt werden, geht es den Menschen im Durchschnitt besser. China ist dafür ein gutes Beispiel. Früher sind dort viele Menschen verhungert, manchmal Millionen. Das ist heute nicht mehr so.

Wie könnte der Wohlstand besser verteilt werden?

Hens: Der ärmste Teil der Bevölkerung braucht Unterstützung vom Staat. Günstiger Wohnungsbau etwa durch Wohnbaugenossenschaften wie in Zürich ist ein Modell, das funktioniert. Und Steuern dienen der Umverteilung und verschaffen dem Staat die Mittel, um einen gewissen Ausgleich zu schaffen. Und dann gibt es die Philanthropie, etwa die von Bill Gates und Warren Buffett initiierte «Giving Pledge», mit der sich reiche Menschen verpflichten, mindestens die Hälfte ihres Vermögens für gute Zwecke zu spenden. Auch in der Schweiz gibt es viele Wohlhabende, die einen Teil ihres Vermögens in gemeinnützige Projekte investieren, etwa indem sie die UZH Foundation unterstützen.

Weshalb tun sie das?

Hens: Das ist dem Streben nach Anerkennung geschuldet. Dem Wunsch, mehr zu hinterlassen als nur Geld. Dieser Gedanke ist in den USA stärker verbreitet als bei uns. Ausserdem kann man damit Steuern sparen. Das wäre auch ein Anreiz, den man bei uns noch verstärken könnte.

3 Wirtschaft führt zum friedlichen Zusammenleben der Nationen

Die Marktwirtschaft erlaubt wegen des internationalen Handels eine Spezialisierung der Länder auf die Produktion derjenigen Güter, bei denen sie einen relativen Vorteil haben. Dies führt dazu, dass die Länder voneinander abhängig werden und ein Krieg für das angreifende Land zu hohem Wohlstandsverlust führt.

Aber: Die Durchsetzung des Friedens erfordert auch Opfer von unbeteiligten Ländern wie der Schweiz. Diese beruft sich allerdings gerne auf ihre Neutralität.

Hat sich dieses Friedensversprechen mit dem Ukraine-Krieg nicht (einmal mehr?) als Illusion entpuppt?

Hens: Leider funktioniert die Idee von Frieden durch Handel, die etwa für die Deutschen in der Beziehung zu Russland wegweisend war, nicht, wenn auf der anderen Seite des Tisches ein Psychopath sitzt, der sich bedroht fühlt und durchdreht. Das geht nur, wenn sich die Beteiligten rational verhalten.

Offenbar gibt es Länder wie Russland, die bereit sind, aus ideologischen Gründen einen hohen Preis zu zahlen, und trotzdem Krieg führen. Zeigt das nicht, dass ökonomisch motiviertes rationales Handeln vor allem Wunschdenken der Ökonomen ist?

Hens: Leider tun wir nicht immer das, was vernünftig wäre. Es zeichnet sich eine neue Blockbildung ab: auf der einen Seite autokratische Staaten wie Russland und China, auf der anderen die freiheitlichen Demokratien. Wirtschaftlich wird das allen Beteiligten schaden.

Die Neutralität der Schweiz wird im Ukraine-Krieg wieder einmal kritisiert. Zu Recht?

Hens: Das Gegenstück zur Neutralität ist die Solidarität. Auch die Schweiz kann nicht 100 Prozent neutral und gleichzeitig solidarisch sein. Meine Haltung dazu ist, dass die Schweiz die Wirtschaftssanktionen mittragen, aber keine Waffen liefern sollte.

Welche Opfer müssen erbracht werden? Und wer erbringt diese?

Hens: Im Moment bringen wir auch Opfer, etwa durch höhere Preise bei Strom und Gas. Doch das grösste Opfer erbringen die Menschen in der Ukraine.

4 In der Wirtschaft wird nur Leistung belohnt

In einer Marktwirtschaft gibt es gleichen Lohn für gleiche Arbeit – unabhängig von Alter, Hautfarbe oder Geschlecht. Was zählt, ist, was man leistet – nicht wer man ist.

Aber: Frauen verdienen weniger als Männer und Menschen mit ausländisch klingenden Namen bekommen weniger Vorstellungsgespräche.

Die angenommene vermutete Gleichheit, die der Markt schaffen soll, ist eine weitere grosse Illusion der Wirtschaftswissenschaft?

Hens: Dem stimme ich zu, etwa wenn es um die Löhne von Frauen und Männern geht. Und da wiederhole ich mich: Gewisse Dinge ergeben sich nicht von selbst oder werden vom Markt geregelt. Für sie muss man kämpfen.

Unternimmt die Wirtschaft nicht viel zu wenig, um die Benachteiligung bestimmter Gruppen zu beseitigen?

Hens: Von sich aus tut sie das nicht, dazu braucht es Druck von aussen. Etwa durch die Environmental, Social and Corporate Governance (ESG) Ratings, die beurteilen, wie nachhaltig eine Firma ist. Was sich auch ändern wird: Mit der Pensionierung der Babyboomer werden uns bald viele Arbeitskräfte fehlen. Das stärkt die Position der Arbeitnehmenden.

5 Risiko wird an den Finanzmärkten belohnt

In der Wirtschaft gilt: «Wer wagt, gewinnt.» Seit es Börsen gibt, erzielt man eine höhere Rendite, wenn man sich an Firmen beteiligt, etwa in Form von Aktien, als wenn man sein Geld an Staaten ausleiht, etwa in Form von Obligationen.

Aber: Man kann mit Aktien auch viel Geld verlieren, wenn man nicht gut diversifiziert ist und Verlustperioden nicht durchsteht.

Das sind gleich zwei Caveat. Werden die Risiken von Investitionen an den Finanzmärkten
nicht kleingeredet, zum Schaden von Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern?


Hens: Das Problem ist, dass die Banken mit risikoreicheren Produkten mehr verdienen. Andererseits: Wenn man kein Risiko eingeht, sitzt man auf dem Geld, das durch die Inflation entwertet wird. Wenn man Geld anlegt, sollte man es breit streuen, beispielsweise indem man es in grosse Aktienindizes wie den MSCI World investiert, der die Kursentwicklung von rund 1600 Aktien aus 23 Industrieländern abbildet. Und man sollte kein Geld anlegen, das man in absehbarer Zeit benötigt.

Dieser Text stammt aus dem Dossier «Was wir glauben» im UZH Magazin 1/2023.

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