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Ökonominnen und Ökonomen beschäftigen sich heute nicht nur mit klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Themen wie Inflation, Wachstum, Steuern, Wechselkursen und Arbeitslosenraten, sondern auch mit Neurowissenschaften und Fragen der Gesundheit oder der Bildung. Und sie machen dazu Experimente. Vor zwanzig Jahren wäre dies wohl noch ungewöhnlich gewesen. Heute ist es ganz normal. Denn in den letzten Jahrzehnten wurden die Wirtschaftswissenschaften revolutioniert – das Department of Economics der UZH war bei dieser Entwicklung an vorderster Front mit dabei.
«Die Ökonomie ist heute eine universale Verhaltenswissenschaft, die überall dort etwas zu sagen hat, wo menschliches Verhalten eine Rolle spielt», sagt Ernst Fehr, der diese Entwicklung massgeblich mitgeprägt hat. Vor kurzem hat Fehr gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Mainz in deutschen Schulen ein Feldexperiment zum Thema Bildung gemacht. Es ging dabei um die Frage, ob der Lernerfolg von kleinen Schulkindern mit einem gezielten Selbstregulationstraining gefördert und verbessert werden kann.
Viele Hinweise aus der Forschung deuten darauf hin, dass selbstregulative Fähigkeiten Menschen nicht nur erfolgreicher machen, sondern auch dafür sorgen, dass sie gesünder und gebildeter sind. «Was immer ich in meinem Leben mache – wenn ich eine selbstregulierte Person bin, mache ich es im Schnitt besser als andere», sagt Ernst Fehr. Mit Selbstregulation ist ein ganzes Bündel von Fähigkeiten gemeint: etwa sich Ziele setzen, diese mit Beharrlichkeit verfolgen und nicht gleich aufgeben, wenn etwas einmal nicht sofort klappt. Genauso aber auch das Vermögen, seine Gefühle, Impulse und seine Aufmerksamkeit zu steuern.
Schon kleine Kinder können das bis zu einem gewissen Grad. Dies zeigte unter anderem das mittlerweile legendäre Marshmallow-Experiment, das der Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel in den 1970er-Jahren durchführte. Bereits vierjährige Kinder schafften es in diesem wissenschaftlichen Versuch, ihre Impulse zu unterdrücken und ein äusserst begehrenswertes, zuckersüsses Marshmallow minutenlang anzustarren und nicht gleich zu verschlingen. Denn, so die Abmachung, kommt die Versuchsleiterin zurück und die Süssigkeit liegt noch auf dem Tisch, gibt es noch eine zweite. Lange nicht alle Kinder schafften das.
Wie sich zeigte, hat die frühe Fähigkeit zur Selbstregulation langfristige Konsequenzen. Denn Nachuntersuchungen, die die Forschenden um Walter Mischel zwanzig Jahre später anstellten, machten deutlich, dass die jungen Erwachsenen, die sich als Vierjährige gut selbst regulieren konnten, bildungsmässig besser dastanden und bessere soziale Beziehungen unterhielten als solche, die den Marshmallow-Test nicht bestanden.
Eine grossangelegte Studie der amerikanischen Psychologin Terrie Moffit aus dem Jahr 2011 bestätigt diesen Befund. Moffit untersuchte die Entwicklung von 1000 Kindern von Geburt an bis zum Alter von 32 Jahren. Sie fand dabei heraus, dass Kinder mit einer guten Selbststeuerung nicht nur schulisch und beruflich erfolgreicher sind, sondern auch weniger Drogen nehmen, ihre Finanzen besser im Griff haben und weniger zur Kriminalität neigen.
So einflussreich die Fähigkeit zur Selbstregulation für die Entwicklung von Kindern ist, in der Schule wird sie nicht gezielt gefördert. Ernst Fehr und seine Kolleginnen und Kollegen von der Universität Mainz wollten deshalb wissen, ob sich diese Kompetenz im Unterricht von sechs- bis siebenjährigen Schulkindern erfolgreich üben lässt. Dazu entwickelten die Wissenschaftler eine Trainingssequenz, die Lehrerinnen und Lehrer in Schulen in Mainz in den Unterricht integrieren konnten. Sie stützten sich auf eine Methode, die die beiden Psychologen Gabrielle Oettingen und Peter Gollwitzer entwickelt haben – die so genannten MCII-Strategie (Mental Contrasting with Implementation Intentions). «Unsere Leistung war es, dieses abstrakte Konzept so anzupassen, dass es für das Training von sechs- bis siebenjährigen Kindern funktioniert», sagt Fehr.
So trainierten also 500 Primarschülerinnen und -schüler aus dreissig Schulklassen auf spielerische Weise, sich Ziele zu setzen – zum Beispiel jeden Tag zehn Minuten zu lesen –, sie identifizierten die Hindernisse, die sie davon abhielten, dieses Ziel zu erreichen – vielleicht weil zuhause ständig der Fernseher läuft –, und sie leiteten danach Wenn-dann-Regeln ab, die sie anwenden können, wenn sie auf dieses Hindernis stossen – etwa: Immer wenn der Fernseher läuft, wenn ich lesen möchte, dann bitte ich meine Eltern, das Gerät abzustellen. Ihr Vorbild war dabei Hurdy, ein im Comicstil gezeichneter Ball. Er machte den Schülerinnen und Schülern vor, wie es ihm schliesslich gelingt, sein Ziel zu erreichen und den Berg hinaufzurollen – bis zum Gipfel.
Für das Erlernen der Technik wurden nur fünf Unterrichtsstunden aufgewendet, danach wurde das Training auf den Leseunterricht angewendet. Trotz dieser relativ kurzen Zeit zeigte die Intervention langfristig positive Folgen. So stellten die Forschenden ein Jahr danach fest, dass die Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die nicht am Training teilnahm, deutlich besser lesen konnten und generell weniger Flüchtigkeitsfehler machten. Ausserdem hatten die Kinder in der Trainingsgruppe eine bessere Impulskontrolle und drei Jahre später war deren Wahrscheinlichkeit, ins Gymnasium zu gehen, um 15 Prozentpunkte höher als bei den Kindern in der Kontrollgruppe. «Das ist erstaunlich», sagt Ernst Fehr, «die steigende Selbstregulation bewirkt, dass die Kinder mehr Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen, sich selbst Ziele setzen und aktiv daran arbeiten, diese zu erreichen.»
Deshalb plädiert der Wissenschaftler nun dafür, das Unterrichten von Selbstregulationstechniken in den Lehrplan von pädagogischen Hochschulen zu übernehmen, damit die angehenden Lehrerinnen und Lehrer diese später im Unterricht anwenden können. Und er spricht sich generell für mehr Frühförderung in der Bildung aus. «Wir sollten mehr in die frühkindliche Erziehung investieren», sagt Fehr, «denn sie wirft längerfristig grosse Gewinne für die Gesellschaft ab und ermöglicht mehr Chancengleichheit.»