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Geschichte

Pilzdecken und Paletten

Ohne effizienten Warentransport ist die moderne Konsumgesellschaft undenkbar. Die Technik- und Wissenschaftshistorikerin Monika Dommann hat die Entwicklung der Logistik erforscht.
Tanja Wirz
Stapler in Lagerraum
Schnell und effizient: Europaletten und Gabelstapler haben die Logistik revolutioniert.

Solange alles fliesst, denkt kaum jemand daran, was alles nötig ist, damit ein im Internet bestelltes Produkt pünktlich nach Hause geliefert wird. Fast könnte die Illusion entstehen, dies geschehe vollautomatisch, wie von Zauberhand. Die Pandemie hat da gründlich für Sand im Getriebe gesorgt. Plötzlich war gar nicht mehr klar, ob das dringend benötigte Medikament in der Apotheke noch erhältlich oder das Ersatzgerät für den kaputten Laptop lieferbar war oder ob das E-Bike, das den Lockdown verschönern sollte, den Weg zum Kunden findet. Und als ob es für die unterbrochenen Lieferketten noch ein anschauliches Sinnbild gebraucht hätte, lief im März 2021 die «Ever Given», eines der grössten Containerschiffe der Welt, im Suezkanal auf Grund und verstopfte tagelange eine der wichtigsten Handelsrouten.

Eine Luftaufnahme des quergestellten Schiffs eröffnet nun passenderweise das Buch «Materialfluss. Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands» der Historikerin Monika Dommann. In ihrer facettenreichen Studie zur Logistik zeigt sie, was alles dahintersteckt, bis ein Produkt den Weg zu den Kunden findet. Ohne moderne Logistik wäre unsere heutige Konsumgesellschaft undenkbar. Entstanden ist sie mit dem Aufkommen der industrialisierten Massenproduktion und der Eisenbahn um 1850: Der Transport von vielen Waren über weite Strecken, und auch die verteilte Herstellung mancher Produkte wie zum Beispiel jener der Textilindustrie, die in verschiedenen Ländern verfertigt wurden, führte zu Koordinations- und Kontrollproblemen, die gelöst werden mussten.

Keine Zeit verschwenden

Eine gängige Vorstellung ist, dass die Logistik ein Produkt der modernen Kriege sei. Doch Dommann winkt ab: Das sei eine popkulturelle Version der Geschichte, die zwar oft erzählt werde und nicht ganz falsch sei. Viel wichtiger sei aber die Entwicklung effizienzsteigernder Fabrikationsprozesse gewesen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA die Massenproduktion durch Fliessbänder, Scientific Management und Akkordlöhne revolutionierten: «Logistik ist vor allem auch ein Versuch, diese neuen, rationalen Prozesse auf die Auslieferung der Waren auszuweiten.» Nicht nur am Fliessband in der Fabrikhalle, sondern auch in den Lagerhäusern und beim Transport der Rohstoffe und der fertigen Produkte sollten möglichst keine Zeit und vor allem kein Arbeitslohn verschwendet werden. Nötig dazu, so betont Dommann, war eine internationale Standardisierung der Abläufe.

Von der Wirtschaftsgeschichte ist die Logistik bisher ziemlich vernachlässigt worden – eine Forschungslücke, welche Dommann mit ihrer Studie nun füllt. Um einen Zugang zu ihrem flüchtigen Forschungsgegenstand zu finden, hat sie sich auf die Momente des Stillstands konzentriert. Damit gemeint sind nicht Pannen wie jene des gestrandeten Containerriesen im Suezkanal, sondern als Technikhistorikerin untersucht Dommann die materielle Kultur, also Objekte, welche die logistischen Prozesse hinterlassen haben. Jeweils eine historische Fallstudie widmet sie dem Warenlager, der Palette, dem Verpackungsmaterial und den sogenannten Kanban-Karten, die der Organisation in der japanischen Just-in-Time-Produktion dienen.

Lagerhallen aus Stahlbeton

«Logistiker lieben es, Probleme zu lösen», sagt Dommann. Und so sind auch die von ihr beschriebenen Phänomene praxisorientierte Lösungen, so etwa die durch den neuen Stahlbeton möglich gewordenen geräumigeren Lagerhallen, bei deren Planung die Funktion vor der Form stand. Mit den «Pilzdecken» des Architekten Robert Maillart stammt ein wesentlicher Beitrag dazu aus der Schweiz. Während diese eigenartigen Konstruktionen nur ausgesprochenen Architekturfans bekannt sind, fand eine andere Form von Lagerhäusern ab 1900 sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit in Literatur, Film und Theater: die amerikanischen Getreideelevatoren, die zu Wahrzeichen der Prärie wurden – oder zu Mahnmalen eines ausser Rand und Band geratenen Kapitalismus, der sogar auf Getreideernten und potenzielle Hungersnöte Wetten abschliesst. Kritische Regisseure liessen in ihren Geschichten da schon mal einen ausbeuterischen Getreidemogul im eigenen Weizensilo ersaufen.

Die Europalette als politisches Symbol

Das neue, rationelle Warenlager war auch geprägt von einem Objekt, das neben seiner eigentlichen Bestimmung in der Logistik in Form von improvisierten Loungemöbeln, Bettgestellen oder Hochbeeten zum allgegenwärtigen Symbol einer alternativ-urbanen Kultur geworden ist: die Palette. Dommann zeichnet den komplizierten Prozess nach, der nötig war, um den Warentransport so zu standardisieren, bis alle dieselben, genormten «Europaletten» verwendeten – was ja auch bedeutet, dass die Güter- und Lastwagen, die Verpackungen und die Produkte genau auf die Masse dieser Holzplattformen abgestimmt werden mussten. Die Europalette, so Dommann, erlangte sogar den Rang eines politischen Symbols für die Einigung Europas: 2016 benutzte der britische Premierminister David Cameron wohl nicht von ungefähr eine davon als Rednertribüne, als er die Werbetrommel für einen Verbleib in der EU rührte. Die Paletten wurden von den Logistikfirmen sehr begrüsst, halfen sie doch Arbeitskräfte einzusparen: «Be wise, palletize!» lautete einer der Werbesprüche dafür.

Den Lagerarbeitern hingegen wurde dieselbe Entwicklung als Chance verkauft, sich weiterzubilden und beispielsweise mit einem Gabelstapler-Fahrausweis den eigenen Marktwert zu steigern. Ähnlich ambivalent lesen sich Werbungen für vollautomatische Hochregallager: der Traum von einer möglichst ganz ohne menschliche Arbeitskräfte funktionierenden, gewissermassen wie ein natürliches Gewässer fliessenden Logistik. Doch bis heute ist das Ideal einer vollautomatischen Logistik nicht realisiert worden. Die in der Logistik arbeitenden Menschen sind aber oft unsichtbar, wie zum Beispiel die vielen Lastwagenfahrer aus Billiglohnländern, die ihren Job in prekärer Scheinselbständigkeit verrichten.

Güterzüge Richtung Gotthard

Dommanns Studie macht klar: Logistik ist als flüchtiger Prozess nicht immer so leicht zu sehen, aber dennoch allgegenwärtig. Doch woher speist sich eigentlich bei der Historikerin persönlich die Faszination für das Thema? Dommann ist am Zugersee aufgewachsen. «Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war geprägt von den Güterzügen der Gotthardstrecke», erzählt Dommann. «Mein Vater war Dorfschullehrer und er hat uns oft gezeigt, wie entlang der Bahnlinie Pflanzen, die mit den Handelsgütern aus aller Welt zufällig mitgekommen waren, im Dorf Wurzeln geschlagen hatten. Insofern war Logistik bei mir praktisch schon immer präsent.»

Portrait Dommann

Die Produktion von Waren und der Konsum sollten wieder näher zusammenrücken.

Monika Dommann
Historikerin

Auch bei ihren Studierenden stiess das Thema auf grosses Interesse. «Die junge Generation hat allerdings nochmals einen ganz eigenen Blick darauf», sagt Dommann, und zwar einen sehr kritischen. Verpackungen werden da nicht mehr primär als geometrisch perfekte Lösung eines Effizienzproblems oder als völkerverbindende Symbole gesehen, sondern als Objekte, die CO2 verbrauchen und die Klimakrise antreiben. «Die Produktion von Waren und der Konsum sollten wieder näher zusammenrücken», meint auch Dommann. Die Logistikkrise während der Pandemie hat eben nicht nur den Logistikunternehmen viel zusätzlichen Gewinn beschert, sondern auch gezeigt, dass es an der Zeit ist, den inzwischen fast natürlich erscheinenden Fluss der Waren rund um den Globus kritisch zu hinterfragen.