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Vor 25 Jahren prägte die indigene US-Forscherin Maria Yellow Horse Brave Heart erstmals den Begriff des «Historischen Traumas» für die leidvolle Geschichte der amerikanischen Ureinwohner. Kann man auch bei der nicht weniger leidvollen Ära der Stalinismus und Poststalinismus von einem «historischen Trauma» sprechen? Dieser Frage ging Psychologieprofessor und Traumaforscher Andreas Maercker nach.
Sie untersuchten diverse Studien aus Osteuropa zu den Auswirkungen der Repression auf die Betroffenen während und nach der Stalin-Zeit. Haben die Opfer und deren Nachfahren ein «historisches Trauma» erlebt?
Andreas Maercker: Zunächst, die Bezeichnung «historisches Trauma» macht psychologisch dann Sinn, wenn es bis heute Folgen gibt. Die Opfer erlebten ein kollektives Trauma, wurden marginalisiert und diskriminiert oder aber ihre Erlebnisse wurden systematisch totgeschwiegen. Dadurch erwuchsen den Nachkommen bis heute Nachteile, was zu einem aktiven Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt und zu grosser Verbitterung führte.
Was ist der Unterschied zwischen einem historischen und einem kollektiven Trauma?
Ein historisches Trauma hat sich über lange Jahrzehnte festgesetzt und betrifft mit seinen negativen sozialen und psychologischen Folgen mehrere Generationen. Ein kollektives Trauma ist eher etwas Kurzzeitigeres, was man nicht vereinzelt, sondern gemeinsam erlebt. Es kann unter Umständen gegenseitige Unterstützung aktivieren – etwa bei Naturkatastrophen oder wie aktuell in der Ukraine.
Dass die Opfer des Stalinismus unter posttraumatischen Störungen litten, ist ja nachvollziehbar. Aber auch die Familien der Opfer und die Nachfolgegenerationen zogen das erlebte Trauma bewusst oder unbewusst weiter. Wie geschieht dies?
Die untersuchten europäischen und ex-sowjetischen Studien zeigten zum einen, dass es Familienbotschaften gab wie: «Wählt einen Beruf, der vor Verfolgung schützt». Wählt also eher den Arzt- und nicht den Lehrer- oder einen Verwaltungsberuf. Oder aber man trichterte den Kindern die Überlebensstrategie «fallt bloss nicht auf, haltet euch aus der Politik raus» ein. In solchen Familien musste sich die nächste Generation mit diesen Botschaften auseinandersetzen – ob sie den Empfehlungen dann Folge leisteten, ist eine andere Sache. Da gab es sicher auch schwere Familienzerwürfnisse.
Wie ging man sonst in den Familien mit der Vergangenheit um?
Gemäss Studien litt das Familienklima besonders, wenn das Trauma umfassend war und das Erlebte totgeschwiegen wurde, obwohl es immer irgendwie präsent war. In manchen Familien gab es auch kaum Nähe und eine wenig emotionale Erziehung, weil die Betroffenengeneration dazu nicht in der Lage war. Wurden zum Beispiel die Grosseltern deportiert und die Eltern im Exil geboren, griffen die Kinder diesen kühlen Erziehungsstil selbst wieder auf, obwohl sie darunter gelitten hatten. In der ehemaligen DDR sagten Nachkommen von politisch Inhaftierten aus, dass sie von ihren Eltern viel härter angefasst wurden als andere Kinder in ihrem Umfeld. Das ist ein durchaus typisches Verhalten und hat mit den psychischen Überlebensstrategien der jeweiligen Generation zu tun. Es muss aber nicht immer so sein.
In den postsozialistischen Staaten scheint das politische und soziale Engagement eher bescheiden. Ist das auch eine Folge dieses historischen Traumas?
Das kann man so nicht verallgemeinern. Es war ja nicht die gesamte Bevölkerung von Repression und Verfolgung betroffen, sondern nur ein Teil. Und die Menschen reagieren unterschiedlich auf gleiche Ereignisse. Das hängt mit dem Kontext zusammen, zum Beispiel bei denjenigen, die nahe an den bis 1965 existierenden Gulag-Lagern lebten und bei denen das allgemeine Misstrauen gegenüber der Umwelt bis heute noch sehr viel höher ist. Die Leute haben die Massendeportationen, den Hunger und die Folter hautnaher miterlebt. Sie zogen den Schluss, dass man sich nicht gegen die Regierung stellen sollte und geben dies über Generationen weiter.
Würden Sie den Schluss ziehen, dass in Osteuropa ganze Generationen psychisch anfälliger sind als in anderen Ländern?
Das kann ich auf der individualpsychologischen Ebene nicht sagen, weil ich das nicht untersucht habe. Ich rede von sozialpsychologischen Aspekten wie Misstrauen, Verbitterung und «Nicht auffallen wollen» und da hat es sicher Veränderungen gegeben.
Wie wichtig ist eine Erinnerungskultur? In Deutschland und Israel hat man ja die Geschichte aufgebarbeitet, in den postkommunistischen Staaten eher weniger…
Sehr wichtig ist die Anerkennung des spezifischen Traumas, erst dann kann man es kollektiv auflösen. Und dazu müssen alle beitragen: Nicht nur Psychologen, sondern auch Historikerinnen, Soziologen oder die Politik. Es hat sich zum Beispiel bei den Holocaustopfern und bei den American Indians gezeigt, dass Wiedergutmachungszahlungen einen messbaren positiven Effekt hatten. Einerseits wird die Öffentlichkeit sensibilisiert und man begegnet den Betroffenen mit mehr Empathie, andererseits wächst auch der Stolz der Opfer. Sie entfalten unternehmerische Initiativen, gründen Begegnungsstätten, bauen Museen auf oder leisten Versöhnungsarbeit.
Sie selbst stammen ursprünglich aus Ostdeutschland. Was haben Sie als Rucksack aus der Geschichte Ihrer Familie mitgenommen?
Teile meiner Familie war durch ihren christlichen, evangelischen Hintergrund in der damaligen DDR der Verfolgung ausgesetzt. Ich selbst sass aufgrund von versuchter Republikflucht zehn Monate in politischer Haft. Das war für mich sehr prägend. Da ich damals bereits eine psychologische Ausbildung hatte, konnte ich mich vielleicht besser abgrenzen und mir sagen: «Ich will für die Anderen da sein, die dort kaputt gemacht werden.» Das hat mir sehr geholfen und mich in meinem künftigen Forschungsfeld bestärkt.
Literatur:
Maercker A.How to deal with the past? How collective and historical trauma psychologically reverberates in Eastern Europe. Frontiers of Psychiatry, 24 August 2023. Doi:10.3389/fpsyt.2023.1228785