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Dürren, Stürme, Hochwasser, Meeresspiegelanstieg und Waldbrände: Die Folgen des Klimawandels sind bereits heute deutlich spür- und messbar und bedrohen die Lebensgrundlagen von Menschen weltweit. Laut dem Weltklimarat flüchten seit 2008 jährlich etwa 20 Millionen Menschen vor Dürren, tropischen Stürmen, Starkregen und Fluten. Doch das ist erst der Anfang. Geografie-Professor Christian Huggel erwartet, dass die Zahl der Klimaflüchtlinge in den nächsten Jahrzehnten weiter ansteigen wird.
Vorauszusagen, wie viele genau betroffen sein werden, ist schwierig. Die Prognosen reichen von 30 bis zu 140 Millionen Menschen, die bis 2050 in Zentral- und Südamerika, in Subsahara-Afrika und in Südasien auf Grund klimatischer Veränderungen mit temporären oder permanenten Umsiedlungen konfrontiert sein könnten. «Es kommen riesige Herausforderungen auf uns zu – national und international», sagt Christian Huggel.
Heute verlassen Menschen meist aus wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Gründen ihre Heimat. Der Klimawandel wird diesen Migrationsdruck weiter verstärken. Christian Huggel erwartet, dass er künftig immer häufiger überhaupt der Grund für Migration sein wird. Damit sind auch die Regierungen der betroffenen Länder gefordert. Etwa wenn es darum geht, Menschen aus vom Klimawandel bedrohten Gebieten umzusiedeln und ihnen eine neue Zukunftsperspektive zu bieten. «Bisher verliefen solche Umsiedlungen meist chaotisch und unkontrolliert», sagt Huggel.
Weshalb das so ist, will der Geograf herausfinden. Deshalb hat er an der UZH das grossangelegte interdisziplinäre Forschungsprojekt RE-TRANS lanciert. Ziel ist es, bisherige Umsiedlungen aus historischer, technischer, finanzieller, rechtlicher, aber auch aus politologischer und natur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Schlussendlich will das Forschungsteam einen Leitfaden für die Praxis erarbeiten, um künftige Umsiedlungen zu erleichtern und nachhaltiger zu gestalten.
Um sich einen Überblick zu verschaffen, entwickeln die Forschenden zurzeit eine globale Risikokarte zu klimabedingten Umsiedlungen. Sie soll eine Übersicht über die vom Klimawandel besonders bedrohten Gebiete geben, in denen die Grenze der Bewohnbarkeit künftig erreicht und Umsiedlungen unausweichlich werden könnten. Konkret werden die Forscherinnen und Forscher bedrohte Gebiete im Bengal-Delta (Meeresspiegelanstieg, Fluten und Dürren), in Zentralkolumbien (Waldrodungen und Hitze), aber auch in der peruanischen Altiplano-Region und den Schweizer Bergen (Gletscherschmelze) untersuchen.
Was Huggel in seiner bisherigen Forschung bereits festgestellt hat: Menschen tendieren stark dazu, sich dem Klimawandel anzupassen und etwa zerstörte Infrastrukturen wiederaufzubauen – vorausgesetzt, sie können es sich leisten. «Häufig ist es auch so, dass nicht alle gleichzeitig wegziehen», sagt der Forscher. Ob es sich lohnt, zu bleiben oder die Heimat zu verlassen, ist oftmals der individuellen Risikobeurteilung überlassen. Beeinflusst wird der Entscheid auch von der Frage, ob es andernorts interessante Perspektiven gibt oder nicht. «Die meisten bedrohten Menschen gehen freiwillig, wenn ihnen die Regierung eine gute Alternative bietet», ist Huggel überzeugt.
Indien gehört zu den Ländern, die jetzt schon besonders stark unter den Folgen des Klimawandels leiden. Bereits heute werden auf dem indischen Subkontinent Temperaturen von bis zu 50°C gemessen. «Die Temperaturen werden vermutlich noch weiter steigen», sagt Maria J. Santos, Professorin für Erdsystemwissenschaften an der UZH, die zum Team des RE-TRANS-Projekts gehört. Santos erforscht unter anderem in Indien, wie sich Ökosysteme und Menschen gegenseitig beeinflussen. Und sie analysiert, welche Umsiedlungsmöglichkeiten aus sozialer und ökologischer Sicht bestehen und wie sich Umsiedlungen auf Biodiversität und Ökosystemprozesse auswirken würden.
Die Hitze in vielen Gebieten Indiens belastet nicht nur die Menschen stark, sondern auch die Natur. Die Böden trocknen aus, die Vegetation stirbt ab und das Klima wird sich ohne den kühlenden Effekt der Pflanzen noch weiter erwärmen. Das Land steht vor grossen Dürren, die die Nahrungsmittelproduktion einschränken werden. Gleichzeitig drohen in bestimmten Regionen Überschwemmungen. Auch die Elektrizität dürfte knapp werden, wenn das Wasser für Kraftwerke fehlt. All diese Entwicklungen könnten zahlreiche Menschen zur Flucht veranlassen. Maria J. Santos erwartet in Indien drei klimabedingte Migrationsströme: aus den ländlichen von Dürren und Überschwemmungen geplagten Gebieten, aus den Megastädten, die zu Hitzeinseln werden, und aus den Delta-Gebieten, die im Meer versinken werden.
Gefährlich wird es aber auch in anderen Regionen der Welt – etwa wegen Wald- und Buschbränden. «Vor drei Jahren gab es beispielsweise in Südeuropa, Kalifornien und Australien bereits heftige Buschbrände. Ganze Ortschaften wurden zerstört», erzählt Huggel. Dies stellte die Bevölkerung vor die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, zerstörte Infrastrukturen wiederaufzubauen, oder ob sie besser wegziehen sollten.
Steigen die Temperaturen, schmilzt das Eis an den Polen und Küstenregionen versinken im Meer. Neben kleinen Inseln, die ganz untergehen werden, sind vom Meeresspiegelanstieg auch viele Grossstädte betroffen, wie etwa New York. «Dort wird schon jetzt viel getan, um die Menschen und die Infrastruktur vor dem Meeresspiegelanstieg zu schützen», sagt Huggel.
Gefahren durch den Klimawandel kombinieren sich häufig. Das zeige sich am Beispiel Floridas, betont der Geograf. Im amerikanischen Bundesstaat steigt nicht nur der Meeresspiegel an, sondern tropische Stürme gelangen gleichzeitig weiter ins Landesinnere und verursachen dort grosse Schäden. Hochwasser und Stürme, deren Intensität und Frequenz durch den Klimawandel zunehmen werden, sind eine weitere grosse Gefahr, die zur Klimamigration beitragen wird.
Was trotz der unzureichenden Datenlage zur Klimamigration bereits jetzt klar ist: Die Ärmsten wird es am meisten treffen. Um zu migrieren, fehlen vielen vom Klimawandel betroffenen Menschen allerdings die finanziellen Mittel. In Indien beispielsweise existiert wie auch an vielen anderen Orten der Welt grosser Reichtum neben riesiger Armut.
Trotz des Wirtschaftsbooms lebten 2022 laut der Vereinten Nationen immer noch etwa 16 Prozent der Bevölkerung in Armut. Zudem ist die indische Gesellschaft sehr hierarchisch. Es gibt eine grosse Vielfalt an Ethnien und die Landnutzung ist von sehr unterschiedlichen Traditionen geprägt – aus sozialen und kulturellen Gründen haben deshalb einige Gruppen gar nicht die Möglichkeit zu migrieren.
Indien ist momentan mit einer Population von über 1,4 Milliarden das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt. Platz für eine neue Heimat zu finden, wird auch angesichts der grossen Bevölkerungsdichte für viele Menschen nicht einfach werden. «Umsiedlungen sind deshalb aus zahlreichen Gründen ein sehr schwieriges Thema», resümiert Maria J. Santos. Ob und wie sie – in Indien und in anderen Ländern mit ähnlichen Herausforderungen – gelingen könnten, auf diese Fragen wollen die Forschenden von RE-TRANS in den nächsten fünf Jahren Antworten finden.