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Missbrauch in der katholischen Kirche

«Wir sind keine Richterinnen»

Die Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier arbeiten im Auftrag der katholischen Kirche Missbrauchsfälle auf. Ihr Projekt ist ein Beispiel dafür, wie sich die Geschichtswissenschaft in die öffentliche Diskussion eines umstrittenen Themas einbringen kann.
Thomas Gull
Die Historikerinnen Monika Dommann (vorne) und Marietta Meier blicken entschlossen in die Kamera.
Monika Dommann und Marietta Meier

Monika Dommann, Marietta Meier, Sie haben den Auftrag erhalten, die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche seit 1950 aufzuarbeiten. Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?
Marietta Meier: Die Kirche ist auf uns zugekommen, worauf wir lange verhandelt haben. Dabei ging es unter anderem um den Zugang zu den (Geheim-)Archiven und um die Zusicherung der Forschungs- und Publikationsfreiheit.

Es handelt sich um «Auftragsforschung». Weshalb haben Sie diesen Auftrag angenommen?
Meier: Die Erforschung des Missbrauchs in der -katholischen Kirche und der Strukturen, die diesen -ermöglicht und es lange Zeit erschwert haben, ihn aufzudecken, ist ein Desiderat der Geschichtswissenschaft in der Schweiz und international. Es gibt zwar bereits Studien in anderen Ländern. Diese wurden aber nicht in erster Linie von Historikerinnen und Historikern durchgeführt, sondern von Theologen, Psychologen oder Soziologen.

Was interessiert Sie an diesem Thema?

Monika Dommann: Wir wollen verstehen, weshalb in der katholischen Kirche massiver Machtmissbrauch und sexualisierte Übergriffe stattfanden und warum sich die Kirche entsprechenden Vorwürfen so lange nicht gestellt hat.

Meier: Wir untersuchen nicht nur die einzelnen Missbrauchsfälle, sondern die Machtstrukturen innerhalb der Kirche, die auch mit den staatlichen Strukturen verbunden sind, was oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Zudem interessieren mich die Vorstellungen von Sexualität in der katholischen Kirche. Wie das Sagbare und das Nichtsagbare religiös geprägt sind, wie über Sexualität und Körper gesprochen wird.

Dommann: Die Missbrauchsfälle könnten auch Juristen untersuchen. Sie würden ähnlich vorgehen wie wir: Akten sichten, mit Leuten sprechen, auf Unregelmässigkeiten achten bei dem, was sie finden oder nicht finden in den Archiven.

Was unterscheidet den historischen Blick vom juristischen?

Dommann: Wir interessieren uns nicht in erster Linie für die Frage nach Recht oder Unrecht, sondern für gesellschaftliche Konstellationen, dafür, wie sich Haltungen und Werte im Lauf der Zeit verändern, aber auch für das Beharrungsvermögen von Strukturen und Denkweisen.

Die Bischofskonferenz setzte bereits 2002 eine Kommission ein, die sich mit sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld auseinandersetzen sollte. Sekretär war der heutige Bischof von Chur, Joseph Bonnemain, der als treibende Kraft bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle gilt. Weshalb dauerte es so lange, bis sich die katholische Kirche der Schweiz zu einer externen Aufarbeitung durchringen konnte?

Meier: Die erste Aufgabe dieser kirchlichen Gremien war die Prävention. Weitere Übergriffe sollten verhindert werden, und es wurden Stellen geschaffen, an die sich die Opfer von Missbräuchen wenden konnten.

Dommann: Mit der Berufung von Joseph Bonnemain zum Bischof von Chur hat sich auch die Machtkonstella-tion innerhalb der Bischofskonferenz verändert. Das war wohl ein Kippmoment, das der Strömung innerhalb der katholischen Kirche zum Durchbruch verholfen hat, die sich für eine wissenschaftliche Erforschung einsetzt. Ausserdem gibt es grosse Studien aus Deutschland und Frankreich, die Hunderttausende von Missbrauchsfällen dokumentieren. Das hat den Druck erhöht, dieses Thema auch in der Schweiz wissenschaftlich zu untersuchen.

Wie wollen Sie Licht ins Dunkel bringen?

Meier: Einerseits haben wir Zugang zu den Archiven der Kirche, auch zu den Geheimarchiven der Diözesen, wo die kircheninternen Strafakten aufbewahrt werden. Andererseits haben sich etliche Personen bei uns gemeldet, die Missbrauchserfahrungen gemacht haben oder Personen kennen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist. Und wir werden mit Opferorganisationen zusammenarbeiten, um Betroffene zu kontaktieren. So können wir die Aussagen dieser Personen abgleichen mit denjenigen in schriftlichen Quellen. Da wird es interessant sein, zu sehen, was wie dokumentiert ist und wo sich Lücken feststellen lassen. Daneben gibt es auch noch Akten in den Staatsarchiven, beispielsweise von Fällen, die durch die Staatsanwaltschaft untersucht wurden und vor weltliche Gerichte kamen.

Werden Sie auch mit Tätern sprechen?

Dommann: Wir wollen die ganze komplexe Struktur des Problems erfassen, deshalb werden wir mit ausgewählten Opfern sprechen und auch mit Tätern, sofern sie dazu bereit sind. In Nachfolgeprojekten wird es darum gehen, das Spektrum der unterschiedlichsten Akteursgruppen systematisch zu erweitern und beispielsweise auch mit Vätern, Müttern und Geschwistern der Opfer zu sprechen sowie die Sicht anderer Beteiligter wie etwa Pfarrköchinnen zu dokumentieren.

 

Monika Dommann, im Hintergrund die Berge
Monika Dommann, Professorin für Geschichte der Neuzeit und Zeitgeschichte.

Die Aufarbeitung ist kirchenintern umstritten. Was bedeutet dies für Ihr Projekt?
Dommann: Nach den ersten Gesprächen, die wir mit Vertretern der katholischen Kirche vor mehr als zwei Jahren geführt haben, ist uns bewusst geworden, dass unser Projekt Teil der Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit diesem Problem sein wird. Im Moment sind jene Kräfte stärker, die die Aufarbeitung unterstützen. Wir hoffen, dass das so bleibt. Dass historische Forschung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stattfindet, ist nicht aussergewöhnlich. Konflikte um den Aktenzugang gibt es immer wieder, insbesondere in Unternehmens- oder anderen Privatarchiven, aber auch in öffentlichen Archiven. Ein besonders prominentes Beispiel war der Verschluss von Akten im Zusammengang mit der Erforschung der Rolle der Schweiz in Südafrika während der Apartheid.

Welche Rolle spielt die historische Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Auseinandersetzung der Kirche mit ihrer eigenen Vergangenheit?
Meier: Unser Projekt ist Teil dieser Auseinandersetzung, die auf verschiedenen Ebenen erfolgt. Wir versuchen einen wissenschaftlichen Beitrag dazu zu leisten. Wenn dabei Probleme auftauchen, werden wir diese ansprechen und transparent machen, einerseits innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, aber falls notwendig auch in der Öffentlichkeit. Deshalb arbeiten wir mit der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte zusammen.

Dommann: Ich finde es reizvoll, dass wir an der UZH, der Universität eines traditionell «reformierten» Kantons, ein Projekt durchführen, das sich mit dem Katholizismus befasst. Früher wäre ein solches Projekt wohl selbstverständlich in Freiburg oder Luzern angesiedelt gewesen. Diese Öffnung spiegelt auch das heutige Verständnis von Forschung, das der Pluralität von Perspektiven verpflichtet ist und künftige Historikerinnen und Historiker an solche Diskussionen heranführen möchte. So werden wir beispielsweise im nächsten Frühling ein Kolloquium zur Sexualität in der katholischen Kirche des 20. Jahrhunderts durchführen. Idealerweise verhält es sich mit dem Thema wie mit einem Rhizom, das anfängt, kräftig zu wuchern.

Die Frage wird sein, wie weit die Aufarbeitung geht und ob sie am Ende nicht vor allem dazu dient, einen Schlussstrich unter die leidige Sache zu ziehen. Nach dem Bergier-Bericht etwa wurden einige der Archive, die vorübergehend zugänglich waren, wieder dichtgemacht. Besteht die Gefahr auch in diesem Fall? Wie schätzen Sie das ein?

Marietta Meier vor den Bergen
Marietta Meier, Titularprofessorin für Neue Geschichte

Meier: Für uns ist klar, dass nach unserem Projekt weiter am Thema geforscht werden muss. Doch der Zugang zu den Archiven könnte in Zukunft wieder schwieriger oder gar unmöglich sein, das ist uns bewusst. Es gibt aber auch andere Wege, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. So gehören die Menschen, die sich äussern wollen, auch zu diesem Rhizom, das Monika erwähnt hat. Deshalb wird Oral History eine wichtige Rolle spielen. Zudem haben wir vertraglich vereinbart, dass wir alle Unterlagen des Pilotprojekts nach dessen Abschluss dem Universitätsarchiv anbieten oder einem anderen nichtkirchlichen Archiv übergeben. Dazu gehören beispielsweise auch Kopien von Quellen.

Dommann: Bei solchen Themen muss man immer auch kämpfen. Das gehört dazu und wir haben damit auch Erfahrung. Ich denke da etwa an die Anfänge der Geschlechterforschung, die die Geschichtswissenschaft verändert hat, die Wissensgeschichte, die in die alten Domänen der Naturwissenschaft vorgedrungen ist, oder die postkolo-niale Geschichte, welche gegenwärtig unsere Forschungsfragen erweitert. Es braucht eine gewisse Besessenheit und Hartnäckigkeit, um zeithistorisch zu forschen.

In jüngerer Vergangenheit gab es verschiedene Projekte zur Aufarbeitung problematischer historischer Zusammenhänge, wie den Bergier-Bericht zu den wirtschaftlichen Verstrickungen der Schweiz mit dem NS-Regime, die erzwungene Fremdplatzierung von Kindern, die koloniale Vergangenheit der Schweiz oder den Bericht über die Bührle-Sammlung im Zürcher Kunsthaus. Diese Forschungsprojekte wurden begleitet von manchmal hitzigen öffentlichen Debatten. Welche Rolle spielen Historikerinnen und Historiker in solchen Konstellationen?
Dommann: Was beim Bergier-Bericht erstaunt, ist, dass dieser in der Geschichtswissenschaft zwar rege diskutiert wurde, die Öffentlichkeit sich aber nach dem Deal mit den Schweizer Banken kurz nach der Einsetzung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) nicht mehr wirklich für die Thematik interessierte. Die Ergebnisse des Berichts wurden nicht im historischen Bewusstsein verankert. Wenn ich heute jüngere Studierende danach frage, dann haben sie am Gymnasium nichts davon gehört. Andererseits sind die Wege, die die Geschichte geht, unergründlich. So hat die Autorin der erfolgreichen Fernsehserie «Frieden» von SRF, Petra Volpe, letztes Jahr an einer Veranstaltung des Historischen Seminars erzählt, dass sie jahrelang die dicken Bände der UEK mit sich im Koffer zwischen New York (wo sie lebt) und der Schweiz herumgetragen habe. Dieses Wissen hat sie dann für «Frieden» fiktionalisiert. Mit der Serie hat sie wieder ein breiteres Interesse für die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg entfacht. Das zeigt, wie lebendig die Vergangenheit sein kann.

Geschichte, so sagt man, wird immer wieder neu geschrieben. Das bietet die Chance zu einer Neubewertung der Vergangenheit. Welches kann Ihr Beitrag in diesem Fall sein?
Dommann: Wir möchten die Fäden auseinanderdröseln, die wichtig sind, um die gegenwärtigen Konflikte zu verstehen. Dabei müssen manchmal sehr lange Zeiträume mitgedacht werden. Die Tatsache, dass es sich bei der katholischen Kirche um eine Organisation handelt, die bis ins Römische Reich zurückreicht und dabei sehr viel Reichtum und Macht ansammeln konnte, könnte wichtig sein. Wir werden auch analysieren, warum bestimmte Entscheidungen in die eine oder andere Richtung getroffen wurden. Beispielsweise weshalb Priester eher an andere Stellen versetzt wurden, statt sie zu entlassen. Auch die Frage, inwiefern Entwicklungen wie die Säkularisierung oder die so genannte sexuelle Revolution eine Rolle spielten, muss gestellt werden. Und nicht zuletzt ist es auch wichtig, zu wissen, ob es früher schon Leute gab, die versucht haben, diese Fragen zu thematisieren, innerhalb der Kirche, aber auch von aussen. Und wie die Kirche darauf reagiert hat.

Wie etwa die Aufarbeitungen der Bergier-Kommission und bei der Bührle-Sammlung gezeigt haben, entscheiden am Schluss die Auftraggeber, was mit den Ergebnissen passiert. In Ihrem Fall wird es die Bischofskonferenz sein. Wie gehen Sie damit um, dass die Deutungshoheit letztlich nicht bei Ihnen, sondern bei den Bischöfen liegt?
Dommann: Die Deutungshoheit liegt nie bei Historikerinnen. Zu historischen Themen kann sich jede und jeder äussern. Bischöfe, Ordensgemeinschaften, Pfarreien und von sexuellem Missbrauch Betroffene – sie alle werden sich ihren eigenen Reim auf unsere Forschungsergebnisse machen und sich dazu äussern.

Meier: Wir werden beurteilen und Stellung nehmen, aber keine Urteile fällen. Wir sind keine Richterinnen, die Schuld im rechtlichen Sinn bewerten müssen, und werden auch keine Empfehlungen abgeben, die über unser Fachgebiet hinausgehen, etwa zur Prävention sexuellen Missbrauchs. Wichtig für uns ist, dass wir unseren Bericht auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte ohne vorherige Einflussnahme der Auftraggeber veröffentlichen können. Was anschliessend damit passiert, wird Teil der öffentlichen Diskussion und der Debatte innerhalb der katholischen Kirche sein.

Mit diesem Projekt stehen Sie nun im Scheinwerferlicht. Wie fühlt sich das an?
Dommann: Wir haben schon in anderen Zusammenhängen Medienarbeit gemacht. Wir werden auch bei diesem Projekt wieder Medienarbeit leisten, nach der Veröffentlichung des Berichts im Herbst 2023.

 

Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin, Ausgabe Nr. 2, 2022.