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Zürcher Jugendbefragung

Deutlicher Anstieg der Jugendgewalt

Jugendliche erfuhren 2021 deutlich mehr Gewalt als vor sieben Jahren. Sexuelle Gewalt in all ihren Ausprägungen ist unter Jugendlichen so verbreitet wie noch nie seit Messbeginn 1999. Auch Raubdelikte und Schulmobbing haben zugenommen. Das hat die neuste Studie des Jacobs Center for Productive Youth Development ergeben. Studienleiter Denis Ribeaud äussert sich dazu im Interview.
Brigitte Blöchlinger
Sexuelle Gewalt gegenüber weiblichen Jugendlichen hat deutlich zugenommen.


Denis Ribeaud, sämtliche Formen sexueller Gewalt haben bei Jugendlichen in den letzten zwanzig Jahren deutlich zugenommen. Welche Jugendlichen sind vor allem betroffen und von welcher Art sexueller Gewalt?

Denis Ribeaud: Wenig überraschend werden weibliche Befragte sehr viel häufiger Opfer von sexueller Gewalt als männliche Jugendliche. Von sexueller Nötigung und Vergewaltigung betroffen sind am stärksten eher bildungsferne Schülerinnen (Sek B/C).

Auch «nicht ausschliesslich heterosexuelle» junge Menschen beider Geschlechter erleiden signifikant häufiger sämtliche untersuchten Formen sexueller Gewalt. Jugendliche, die sich der Geschlechtskategorie «divers» zuordnen, erfahren ebenfalls mehr sexuelle Gewalt als männliche Jugendliche und ungefähr gleich viel wie weibliche Jugendliche.

Wie erwähnt, finden wir für sämtliche Formen sexueller Gewalt eine deutliche Zunahme. Am häufigsten werden sexuelle Belästigung und Bedrängung bei der Onlinekommunikation berichtet (rund 50% der befragten jungen Frauen). Sexuelle Belästigung im schulischen Kontext wird mit rund 30% heute von doppelt so vielen jungen Frauen berichtet wie noch vor 7 Jahren. Und auch sexuelle Nötigung und Vergewaltigung wird heute mit ca. 15% gegenüber 6% von mehr als doppelt so vielen jungen Frauen berichtet.

Denis Ribeau
Studienleiter Dr. Denis Ribeaud

Jugendliche erleben mehr Gewalt im öffentlichen Raum. Wie muss man sich das vorstellen?

Denis Ribeaud: Wir sehen, dass die Gewaltzunahme vor allem einer Zunahme der Gewalt im öffentlichen Raum entspricht. Dabei handelt es sich typischerweise um Gewalt, die sich während des Ausgangs am Wochenende ereignet. Die Taten im öffentlichen Raum werden eher von Unbekannten verübt, häufiger auch von Gruppen.

Fragt man die Opfer nach den Tatmotiven, können sie kein Motiv erkennen. Sie erfahren die Gewalt als zufällig, was natürlich ein starkes Ohnmachtsgefühl auslöst. Wir sehen ausserdem vermehrt Motive in Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sichtbaren Gruppe bzw. Minderheit. Opfer geben häufiger Gewalt aus rassistischen Motiven an oder aufgrund von interethnischen Konflikten. Auch Gewalt zwischen Cliquen, Gangs oder Fangruppen wird häufiger genannt.

Die Gewaltzunahme findet sich allein unter den 10 Prozent der am stärksten risikobelasteten Befragten, schreiben Sie in der Studie. Wer sind diese 10 Prozent?

Denis Ribeaud: Wir haben zunächst 30 Risikofaktoren in den Bereichen Persönlichkeit, Schule, Familie, sozialer Hintergrund, Freizeit und Peers untersucht. Daraus ergab sich eine unübersichtliche Gemengelage von teils schwer interpretierbaren Trends. Daraufhin haben wir die 16 wichtigsten, am stärksten mit Gewalt zusammenhängenden Faktoren zu einem Gesamtindex verrechnet. Als Beispiele ein paar dieser Faktoren, die auf «harte Jungs» hinweisen: geringe Selbstkontrolle, zynische Einstellungen gegenüber Recht und Ordnung, elterliche Gewaltanwendung, schulische Demotivation, Konsum gewaltlastiger Medieninhalte, Konsum «harter» Drogen, häufiger nächtlicher Ausgang, Mitgliedschaft in einer gewaltbereiten Gruppe.

Die 10% der Jugendlichen mit maximaler Risikobelastung weisen im Vergleich zur gleich stark belasteten Gruppe vor 7 Jahren eine doppelt so hohe Gewaltrate auf. Und allein auf diesen Unterschied lässt sich die gesamte Gewaltzunahme zurückführen. Die Hochrisikogruppe ist gewissermassen doppelt so «gefährlich» wie noch vor 7 Jahren.

Auch schwere Formen sexueller Gewalt wie sexuelle Nötigung und Vergewaltigung haben unter Jugendlichen deutlich zugenommen. Zeigen die Opfer die Täter auch vermehrt bei der Polizei an?

Denis Ribeaud: Bei sexueller Gewalt hat sich die Anzeigerate zwischen 2014 und 2021 fast halbiert (von 12.3% auf 6.7%). Die Opfer zeigen die Delikte also eher seltener an. Entsprechend ist das ein Hinweis, dass die Zunahme der Anzeigen in der Polizeistatistik nicht auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft zurückzuführen ist, sondern auf eine tatsächliche Zunahme der sexuellen Gewalt.

Wie stehen die Jugendlichen zur Gleichstellung von Mann und Frau in Paarbeziehungen?

Denis Ribeaud: Angesichts der zunehmenden sexuellen Gewalt könnte man meinen, dass Jugendliche wieder antiegalitärer eingestellt sind als auch schon. Das Gegenteil ist der Fall: Jugendliche beider Geschlechter sind heute signifikant egalitaristischer eingestellte als bei der letzten Befragung. Umgekehrt sind «Macho-Einstellungen» – oder genauer «Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen» – signifikant rückläufig.

Leben heutzutage auch mehr Jugendliche in einer Partnerschaft?

Denis Ribeaud: Nein, es geben in beiden Geschlechtern und in beiden Altersgruppen signifikant weniger Jugendliche an, in einer Partnerschaft zu leben. Ebenso ist der Anteil Jugendlicher, die sexuelle Erfahrungen gesammelt haben, generell rückläufig. Ob es sich dabei um einen Langzeittrend oder um einen temporären Rückgang in Zusammenhang mit den Corona-Massnahmen handelt, wird sich erst in Zukunft weisen.

Wie hat sich der Konsum von Pornografie entwickelt?

Denis Ribeaud: Seit Messbeginn 2007 stellen wir bei 16-jährigen Jungen eine kontinuierliche Zunahme des regelmässigen, wöchentlichen Pornokonsums fest, von unter 30% auf zuletzt rund 50%. Bei 18-Jährigen geben sogar rund zwei Drittel regelmässigen Pornokonsum an. Bei jungen Frauen hat der regelmässige Pornokonsum zuletzt auch deutlich zugenommen und liegt heute im Bereich von 10%.

Schulmobbing ist heute so verbreitet wie noch nie seit 1999. Wie mobben Jugendliche in der Schule?

Denis Ribeaud: Schulmobbing hat viele Gesichter. Nebst physischer Gewalt können dem Opfer persönliche Dinge zerstört werden, Opfer werden erpresst, gedemütigt, ausgelacht oder aus den Peer Groups ausgeschlossen. Besonders Mädchen, aber auch Jugendliche, die nicht in gängige Geschlechtsstereotypen passen, werden Opfer von sexueller Gewalt.

Sämtliche Formen von Mobbing haben Höchststände erreicht. Auch aus der Täter:innenperspektive geben Jugendliche häufiger an, physische Gewalt anzuwenden und Sachen zu zerstören.

Eine grosse Ausnahme bildet sexuelle Belästigung, die aus der Täter:innenperspektive kaum je berichtet wird. Wir vermuten, dass sexuelle Belästiger:innen ihr Handeln oft gar nicht als problematisch bzw. belästigend wahrnehmen. Dieser Befund zeigt, dass Prävention bereits auf der Wahrnehmungsebene ansetzen sollte.

Erstmals wurden die Jugendlichen auch nach der Einnahme von nicht ärztlich verschriebenen, rezeptpflichtigen Medikamenten gefragt. Mit dem Resultat, dass offenbar rund 10% der 9.-Klässler:innen angaben, Opioidschmerzmittel zu konsumieren. Was weiss man zu diesem frühen Opioid-Konsum?
Denis Ribeaud: Da wir diese Substanzklasse erstmals erfragt haben, ist es schwierig, diese Zahlen einzuschätzen. Zunächst gilt es zu präzisieren, dass es um den «ärztlich nicht verschriebenen Konsum» geht, d. h. die Einnahme zu «Freizeitzwecken» oder zur Selbstmedikation. Wir vermuten, dass spezifisch bei den Opioiden ein Zusammenhang mit Teilen der Rap-Szene besteht, wo Opioide als Modedroge zelebriert werden – ein Trend, den wir bereits vor vielen Jahren mit entsprechend verheerenden Konsequenzen aus den USA kennen.

Dass es sich um eine neue Modeerscheinung handelt, zeigt sich etwa daran, dass Opioide in der älteren Altersgruppe der 18-Jährigen etwas seltener als in der jüngeren Gruppe konsumiert werden. Bei allen «etablierten» Drogen findet man typischerweise eine steile Zunahme der Konsumraten von der mittleren in die späte Adoleszenz. Entsprechend sollte dieser Befund mit einiger Sorge zur Kenntnis genommen werden, zumal Opioide ein überaus hohes Suchtpotential aufweisen.

Zum Schluss noch eine Frage zu einer positiven Entwicklung: Die befragten Jugendlichen tranken tendenziell weniger Alkohol, rauchten weniger Zigaretten und Cannabis. Würden Sie daraus schliessen, dass Aufklärung und Präventionsmassnahmen wirken?

Denis Ribeaud: Ich denke, dass insbesondere beim Tabakkonsum die Präventionsmassnahmen sehr stark gegriffen haben, sowohl der gelegentliche wie auch der regelmässige Tabakkonsum sind zurückgegangen. Der Rückgang hier hängt wohl nicht nur mit Preissteigerungen und Zugangsbeschränkungen für Jugendliche zusammen. Ich denke, dass Rauchen auch einen «Imageverlust» erlitten hat. Ich gehe auch davon aus, dass der ebenfalls rückläufige Cannabiskonsum teilweise auf den verringerten Tabakkonsum zurückzuführen ist.

Beim Alkohol sehen wir ebenfalls sehr erfreuliche rückläufige Trends. Allerdings stellen wir bei 16-Jährigen eine Zunahme des regelmässigen Spirituosenkonsums fest und ebenso eine deutliche Zunahme des Alkoholkonsums im Alter vor 13. In Bezug auf diese kleine Gruppe scheint es Handlungsbedarf zu geben.