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Coronavirus

«Wir sind Jäger und Sammler»

SARS-COV-2 ist nicht die erste Pandemie, von der die Menschheit betroffen ist, und sie wird auch nicht die Letzte sein. Was wir aus der Vergangenheit lernen können und weshalb Menschen so unterschiedlich auf Krisen reagieren, erklärte Evolutionsmediziner Frank Rühli in einem Referat.
Adriana Rüegger
Hamstern in Coronazeiten: Das WC-Papier wurde während des Lockdowns zur Mangelware.


Es ist Frühling im Jahr 2020. Die WHO hat SARS-CoV-2 zu einer Pandemie erklärt und viele Länder fordern ihre Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben. Womit niemand gerechnet hat: eine Knappheit an Toilettenpapier, da dies plötzlich als wichtigstes Gut angesehen und gehortet wird. Dieses Verhalten wurde zuerst in Australien beobachtet und verbreitete sich dann in immer mehr Regionen. Wieso reagiert der Mensch so auf eine Krise?

Kämpfen oder flüchten

«Wir sind immer noch ein wenig Jäger und Sammler», erklärte Frank Rühli, Leiter des Instituts für Evolutionäre Medizin und Dekan der Medizinischen Fakultät, in seinem Referat im Rahmen der Vorlesungsreihe «Wissen-schaf(f)t Wissen». Aus Sicht des Evolutionsmediziners verhalte sich der Mensch im Laufe der Geschichte in Krisen immer wieder ähnlich. Als erste kurzfristige Reaktion lässt sich dies auf eine «Fight or Flight Response» reduzieren, so Rühli. Bei einer akuten Herausforderung überlegen sich die Menschen, ob sie flüchten oder kämpfen wollen. Längerfristig zeigt sich eine Bandbreite von Verhaltensweisen – von Verharmlosung bis hin zu Panik. Das Hamstern von Toilettenpapier als Reaktion auf eine globale Krise ist daher nicht überraschend für den Evolutionsmediziner, sondern erklärbar. «Der Mensch trägt einen evolutionären Rucksack. Diesen abzulegen, fällt uns sehr schwer», hielt Rühli fest.

Der «Pandemic Gap» der Schweiz

Besonders in der Schweiz hatten wir lange keine Katastrophen mehr. Die Schweizerinnen und Schweizer können sich laut Rühli nicht mehr an schlimme Zeiten erinnern. Er spricht hier von einem «Pandemic Gap», einer Pandemie-Lücke. Die letzte ähnliche Krise wie die Corona-Pandemie war die Spanische Grippe. Diese zwei Ereignisse lassen sich aber nur bedingt vergleichen. Die Schweiz hatte 1918 ein ganz anders entwickeltes Gesundheitssystem und viel weniger Wissen über Viren, so Rühli. Durch die Globalisierung hätten sich Prozesse auch beschleunigt. So kann sich heute zum Beispiel eine neue Virusvariante innerhalb von wenigen Stunden auf der ganzen Welt verteilen. Dieser Verlauf war vor 100 Jahren um ein Vielfaches langsamer. 

Lernen von der Spanischen Grippe

Im Verhalten der Menschen lassen sich in den zwei Ereignissen aber durchaus Parallelen erkennen. Die Schweiz habe damals mit ähnlichen Massnahmen, wie etwa Schulschliessungen, reagiert und diese nach einer ersten Welle wieder aufgehoben. Weiter wurde 1918 bei der zweiten grossen Welle der Spanischen Grippe, wie in der Schweiz im Sommer 2020, zu zögerlich reagiert. Aus historischer Sicht sei diese langsame Reaktion ein Fehler gewesen, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie von Kaspar Staub, Privatdozent am Institut für Evolutionäre Medizin (IEM) darlegte (siehe Kasten). Eine weitere historische Konstante, die sich in allen Grippewellen durch die Jahrhunderte zeigt, ist die soziale Ungleichheit, welche die Krise verstärkt. Sozial schlechter gestellte Personen werden schlimmer von einer Grippewelle getroffen, weil sie einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.

Starke Wellen nach Temperatureinbruch

Lässt sich vom Verlauf der Spanischen Grippe daher auch etwas über den zukünftigen Verlauf der SARS-CoV-2-Pandemie sagen? Wie sich eine Pandemie entwickelt, hängt von der Bevölkerungsimmunisierung und der Anpassung des Virus ab, aber auch von den Temperaturen während der Jahreszeiten. Wie epidemiologische Studien des IEM zeigen, erlebten wir nach 1918, 1957, 2020 und im Herbst 2021 zum vierten Mal, dass eine starke pandemische Herbstwelle kurz nach dem saisonal bedingten Einbruch der Temperaturen Anfang Oktober ansteigt. Auch können sogenannte spätere Wellen, wie das 1920 der Fall war, sehr stark ausfallen und eine höhere Mortalität erzeugen. Doch der Evolutionsmediziner Rühli sieht auch Licht am Horizont: «Das Virus hat kein Interesse, jeden umzubringen. Darum kann es sich auch zu einem Virus entwickeln, dass schneller ansteckt aber generell schwächer auf den Menschen wirkt.»

Historische Sicht berücksichtigen

Gewisse Verhaltensmuster bei Krisen bleiben tief in uns drin. «Schauen Sie mal mit evolutionär-historischer Brille in die Kommentarspalten einer Zeitung», empfahl Rühli. Man könne nicht erwarten, dass 100 Menschen gleich auf eine Krise reagierten. In der Krisenkommunikation gingen daher oft diejenigen Menschen vergessen, die sich anders verhielten, als es die Vernunft vorschreibe. Wenn für zukünftige Pandemien geplant werde, sollte unbedingt auch die historische und evolutionäre Perspektive berücksichtigt werden. Der Experte wünscht sich daher mehr Historikerinnen Historiker sowie Evolutionsmediziner in der Pandemie-Planung. Dieses Vorhaben fliesst in das neu gegründete Center for Crisis Competence der UZH ein. Der Think Tank vereint alle sieben UZH-Fakultäten, um interdisziplinäre Kompetenzen für das Management von Krisen aller Art aufzubauen.

Ein positives Beispiel für eine Pandemie-Planung mit historischer Sicht findet man in der Medizinischen Sammlung des IEM: Dort ist ein «Pest-Kasten» aus dem Jahr 1901 ausgestellt – ein komplettes, nie gebrauchtes Test-Kit für den Fall eines Pestausbruchs, was zeigt, wie bereits vor über 100 Jahren mit epidemiologischer Weitsicht für eine mögliche erneute Pest-Pandemie geplant wurde.