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Gerontologie

«Der Bildungshunger im Alter ist grösser als erwartet»

Schweizer Senioren und Seniorinnen wünschen sich weit mehr Bildungsangebote als bisher angeboten werden. Das belegt eine neue nationale Studie der Seniorenuniversitäten, der Volkshochschulen zusammen und dem UZH-Zentrum für Gerontologie. Altersforscher Mike Martin erklärt Interview mit UZH News warum Bildung für die Älteren so wichtig ist.
Marita Fuchs
Seniorinnen und Senioren suchen auch nach Bildungsformaten, bei denen sie ihren Erfahrungs- und Wissensschatz einbringen können, und die eine kritische Reflexion und Diskussion erlauben.


Herr Martin, Sie haben gerade eine Studie über das Bildungsbedürfnis von Schweizerinnen und Schweizern von 60 bis 90 Jahren veröffentlicht. Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?

Mich hat überrascht, wie gross unter den Seniorinnen und Senioren der Wunsch nach Bildungsangeboten ist. Der Umfang der Angebote müsste demnach viermal grösser sein, als er heute ist. Ausserdem hat mich überrascht, wie differenziert und präzise die Vorstellungen sind.

Wie sind Sie auf diese Angaben gekommen?

Die Zahlen beruhen auf randomisierten Online-Interviews der Schweizer Wohnbevölkerung ab 60 Jahren – ohne Altersobergrenze. Insgesamt wurden etwa 1000 Personen befragt.

Was steckt hinter diesem grossen Wunsch nach Bildung?

Lebenslanges Lernen wird sehr häufig nur auf das Erwerbsleben bezogen, doch das greift zu kurz. Der Bildungshunger ist auch im Alter gross – und noch grösser als erwartet.

Was konkret müsste man tun?

Wir müssen das Bildungsangebot erweitern, denn breit ausgelegte Bildungsangebote sind sinnvoll für die Gesellschaft als Ganze. Gut informierte Bürger und Bürgerinnen sind wichtig für die Gemeinschaft, sie sind offen gegenüber Forschung und neuen Entwicklungen und begleiten diese kritisch. Das gilt natürlich für alle Altersgruppen.

Gute Bildungsangebote kosten auch, wer soll das finanzieren?

Die Angebote müssten so ausgelegt sein, dass Rentnerinnen und Rentner sie bezahlen können. Letztlich sind Bildungsangebote in guter Qualität auch eine Frage des politischen Willens.

Welche Bildungsinhalte bevorzugen die Senioren?

Vor etwa zehn Jahren interessierten die Älteren sich vor allem für medizinische Inhalte. Das hat sich sehr geändert. Heute zeigen die Senioren und Seniorinnen Interesse an allen wissenschaftlichen Disziplinen. Und nicht nur reine Wissensvermittlung ist gefragt, sondern auch Formate, die Gelegenheit zur kritischen Reflexion bieten. Das zeigt sich am Beispiel Digitalisierung. Dieses Thema haben wir in unserer Befragung speziell angesprochen. Die Seniorinnen und Senioren interessieren sich nicht nur für neueste Technologien und wie sie funktionieren, sie suchen auch die kritische Auseinandersetzung damit und wollen zum Beispiel über das Thema Datensicherheit und die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der Digitalisierung zusammenhängen, diskutieren. 

Heute sind Herr und Frau Schweizer im Schnitt bis zum 74 Lebensjahr gesund und fit. Welche Lernformen wünschen sie sich?

Interessanterweise gibt es auch hier eine starke Veränderung. Die Älteren heute sind flexibel und mobil. Es ist eine heterogene Gruppe. Das Bild von den Älteren, die auf dem Sofa sitzen und lesen, stimmt so nicht. In der Regel sind die Seniorinnen und Senioren viel unterwegs und gegenüber Online-Formaten durchaus aufgeschlossen. Sie wünschen sich Bildungsangebote dann, wenn sie Zeit haben. Und noch etwas hat die Studie ergeben: Viele der über 65jährigen suchen nicht nur Bildungsangebote im Vorlesungsformat, sie möchten sich aktiv beteiligen und ihren grossen Erfahrungs- und Wissensschatz einbringen. Mitentscheiden und Mitbestimmen ist den heutigen Seniorinnen und Senioren wichtig. Das bedeutet zum Beispiel für die Senioren-Universität, die ich an der UZH leite, dass wir vermehrt interaktive Formate anbieten, welche von den Seniorinnen und Senioren aktiv mitgestaltet werden können.

Was sind die besten Rahmenbedingungen für Ältere, damit sie sich von Weiterbildungsangeboten angesprochen fühlen? 

18 Prozent der befragten Personen ab 60 Jahren beteiligen sich derzeit aktiv an einem Bildungsangebot oder an mehreren. Klar ist, dass wir mehr tun müssen, damit Bildungsangebote noch bekannter werden. Wir müssen versuchen, auch diejenigen ins Boot zu holen, die bisher keinen Zugang zu den Bildungsangeboten gefunden haben, auch wenn sie diese gerne nutzen würden.

Wie setzen Sie konkret diese Überlegungen für die Senioren-Universität der UZH um?

Wir haben eine sehr günstige Jahreskarte, dieses Angebot müsste sich nur noch mehr herumsprechen. Wir versuchen jetzt Absolventinnen und Absolventen der Senioren-UZH als Bildungsbotschafter einzusetzen, und wir möchten Online-Angebote verstärken. Wir wollen all diejenigen erreichen, die sich für Forschungsthemen interessieren, und dazu auch Schnupperwochen einführen.

Als Forscher befassen Sie sich mit dem gesunden Altern. Wird es weitere Studien zur Bildung im Alter geben?

Ja, die aktuelle Studie ist ein Startschuss für weitere Monitorings. Wir wollen noch viel mehr darüber erfahren, wie wir lebenslanges Lernen für alle anbieten können.