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Medizin und Literatur

Schreiben und Lesen in Zeiten von Corona

Wie beeinflusst der medizinische Alltag das literarische Schaffen? Und wie wirken sich die Arbeiten von Autorinnen und Autoren auf unsere Wahrnehmung von Medizin aus? Literaturwissenschaftlerin Anna Elsner erforscht am Beispiel der französischen Literatur diese Phänomene, die gerade in Zeiten von Corona besonders interessieren.
Marita Fuchs
«Corona wird unseren gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Trauer verändern»: UZH-Literaturwissenschaftlerin Anna Elsner.

 

Frau Elsner, Sie befassen sich mit Literatur über Krankheit und Tod. Welchen Stellenwert hat das Lesen in Zeiten von Corona?

Als Romanistin ist es für mich bezeichnend, dass der französische Präsident Emmanuel Macron zu Beginn der Corona-Krise seine Landsleute unter anderem dazu aufgerufen hat, die Zeit zuhause mit Lesen zu verbringen. Damit hat er angedeutet, dass Literatur gerade jetzt eine wichtige Rolle spielen kann. Es ist wohl kein Zufall, dass der Verkauf von Camus’ La Peste seitdem explosionsartig zugenommen hat. ‘La Peste’ wird allgemein als eine Allegorie für den Faschismus verstanden. Mit Blick auf Corona vermute ich aber, dass es die beängstigend akkuraten Beschreibungen einer sich entfaltenden Epidemie und die verschiedenen Strategien ihr zu begegnen sind, die das Buch für heutige Leser relevant machen.

Denn wie Camus’ Pest erschüttert auch Corona unseren Glauben an eine allmächtige Medizin und hebt gleichzeitig Ungleichheit und Ungleichbehandlung schärfer hervor. Die Überlastung der Intensivmedizin und des Gesundheitssystems und – vor allem die Angst davor – nötigt die Menschen, sich mit Tod und Sterben auseinandersetzen.

Ihr Fachgebiet fällt unter den Bereich der Medical Humanities, was genau versteht man darunter?

Der Begriff «Medical Humanities» wurde Ende der 1960er Jahre in den USA immer gängiger, als an einzelnen Universitäten die medizinische Grundausbildung durch geistes- und sozialwissenschaftliche Kurse erweitert wurde. Das schien notwendig, weil der gesellschaftliche und technische Wandel sowie neue Patientenrechte und die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzten sich drastisch veränderten. Historisch haben die Medical Humanities den Anspruch, die Medizin zu humanisieren. Das hat sich bisher hauptsächlich in der Lehre niedergeschlagen.

Versteht man die Medical Humanities aber als Forschungsfeld, dann geht es darum, einen kritischen Blick auf die Medizin zu werfen. Praktisch heisst das, dass Disziplinen – wie zum Beispiel die Literaturwissenschaft – den Umgang mit der Medizin, aber auch der Medizinethik und Medizingeschichte in der Literatur kritisch hinterfragen.

Wer befasst sich an der UZH mit diesen Fragen?

Die Debatte um die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften in und ihre Beschäftigung mit der Medizin wird heute rege geführt. An der UZH gibt es seit 2014 am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte ein Center for Medical Humanities, das sich mit genau diesen Fragen befasst. Die Forschung am Center for Medical Humanities versteht sich daher als Türöffner. Sie erlaubt den Geistes- und Sozialwissenschaften und der Medizin miteinander ins Gespräch zu kommen und eröffnet Möglichkeiten zur interdisziplinären Zusammenarbeit.

Welche Rolle spielt die Literaturwissenschaft für die Medizin?

Zeitgenössische Literatur ist ein Seismograph für gesellschaftliche Fragen. Mein Bestreben ist es, dieses Potential der Literatur hervorzuheben – gerade auch für die Medizin. Natürlich ist das Schreiben über den Tod immer schon Teil der Literatur gewesen. Doch die moderne Medizin hat grundlegend dazu beigetragen, dass es in den letzten zwanzig Jahren einen explosiven Anstieg autobiographischer Texte über Krankheit und Sterben gab.

Während sich bei Montaigne der Tod noch auf einige kurze unangenehme Augenblicke beschränkte, kann die Medizin heute das Sterben in die Länge ziehen, und dies wird auch literarisch dokumentiert. Das wirft Fragen auf, die sich wiederum auf das Selbstverständnis der Medizinerinnen und Mediziner und auf das Gesundheitssystem auswirken.

Ich befasse mich hauptsächlich mit französischen Texten, die über medizinische Behandlungen berichten, aber das Phänomen ist in allen westlichen Ländern vergleichbar. Denken Sie nur an den deutschen Bestsellerautor Wolfgang Herrndorf, der an einem Gehirntumor erkrankte und auch daran starb. Sein Blog lässt sich als Chronik eines angekündigten und gewissen Todes lesen und zeigt die Ohnmacht der Medizin. Ein anderes Beispiel ist der französische Autor Philippe Forest, der in verschiedenen Texten den Tod seiner krebskranken Tochter beschreibt. Die gelebte Erfahrung des medizinischen Alltags mit seiner Bürokratie, seinen Fehlern und Schwächen wird von Forest literarisch aufgearbeitet. In all diesen Texten findet sich oft Kritik an der modernen Medizin und an ihrem Umgang mit dem Tod. Das ist auch für Medizinerinnen und Mediziner von Interesse.

Gibt es gerade jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie neue Entwicklungen?

Ja, es ist sehr spannend, was im Moment an der Schnittstelle von Literatur und Medizin passiert. Es zeigt sich schon jetzt, dass Corona den Boom von autobiographischen Texten weiter anheizen wird. Grossteils setzen sie sich mit der Ungerechtigkeit und Ungleichheit auseinander, sowohl in der Medizin, als auch in der Gesellschaft.

So kritisierte die bekannte französische Schriftstellerin Annie Ernaux in einem öffentlichen Brief Emmanuel Macron vehement für seine Sparpolitik im Gesundheitswesen, aber auch für seinen Gebrauch von Kriegsmetaphorik im Bezug auf Corona.

Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das umgekehrt die Reaktion auf Privilegien, die in der Krise hervortreten, veranschaulicht: Leïla Slimani, Trägerin des Prix Goncourt, beschreibt in ihrem Corona-Tagebuch ihr Leben in einem Landhaus ausserhalb von Paris, in das sie sich mit Mann und Kindern seit der Ausgangssperre zurückgezogen hat. Ihre Tagebucheintragungen wurden in der Tageszeitung «Le Monde» abgedruckt und stiessen auf Kritik und Ablehnung.

Das Sinnieren über die Krise aus einer überaus privilegierten Situation heraus stiess vielen Leserinnen und Lesern sauer auf. Slimani beschreibt den Raureif der Wiesen vor ihrem Haus und die Corona-Bilder, die ihre Kinder malen. Binnen kürzester Zeit ergoss sich ein Shitstorm in den sozialen Netzwerken über sie. Das wirft die Frage auf: Warum wird hier versucht, eine durchaus reale Erfahrung der Krise zu zensieren, nur weil sie nicht von der «Frontline» kommt?

Neben so bekannten Schriftstellern wie Leïla Slimani greifen aber auch Menschen in die Tasten, die sonst nicht schreiben. In Blogs oder kurzen Texten berichten sie über ihre Erfahrung mit der modernen Medizin. Inwiefern sich all diese Texte wieder auf den medizinischen Alltag auswirken könnten, ist eine der Fragen, die in das Gebiet der Medical Humanities fällt.

Ein ganz wesentlicher Angstfaktor vor Corona ist die Angst vor dem Alleine-Sterben. Sehen Sie da auch Veränderungen auf uns zukommen?

Die Bilder und Berichte aus Italien, von Patienten, die sich im besten Fall noch über einen iPad von ihren Familien verabschieden können, oder auch, dass in Spanien religiöse Begräbniszeremonien bis zum Ende des Lockdowns verboten wurden, deuten darauf hin, dass Corona unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod und der Trauer verändern wird – auch wenn das historisch gesehen nicht unbedingt neu ist.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass genau diese Angst vor einem Tod ohne Angehörige und ohne Zeremonien das Sterben für die Medizin greifbarer machen könnte. Vielleicht wird das sogar zu einer Chance für die Medizin. Denn neben ethischen Fragen zur Triage bringt Corona auch eine andere unterschwellige Krise in vielen Gesundheitssystemen zum Vorschein, nämlich, dass die Palliativmedizin vielerorts immer noch nicht genügend ausgebaut ist, und natürlich, dass die Medizin – trotz Palliative Care – weiterhin von einem sehr schwierigen Verhältnis zum Tod geprägt ist. Sicherlich werden sich diese Erfahrungen auch literarisch niederschlagen.

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