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Entwicklungspädiatrie

«Kinder mit Hirnverletzungen können sich sehr gut entwickeln»

Bei Komplikationen vor oder während der Geburt oder bei Unfällen kann das Gehirn schwer verletzt werden. Doch Kinder können sich häufig trotzdem erstaunlich gut entwickeln. Die Entwicklungspädiaterin Bea Latal erklärte an einem Referat, warum dies so ist und welche Therapien den Kindern und deren Familien am meisten helfen.
Sabina Huber-Reggi
Kinder können sich trotz Hirnverletzungen häufig trotzdem erstaunlich gut entwickeln. Wichtig für die Kinder sind vor allem ein motivierendes Umfeld und spezifische Übungen, die gezielt die gewünschten Fähigkeiten fördern


Sonjas Schwangerschaft war unauffällig, doch bei der Geburt kam es zu Komplikationen und zu einem schweren Sauerstoffmangel. Da das Kind nach der Geburt Krampfanfälle erlitt, vermuteten die Ärzt*innen, dass das Gehirn zu wenig durchblutet und in Mitleidenschaft gezogen wurde. Denn Krämpfe können ein Zeichen dafür sein. Eine Magnetresonanztomographie bestätigte den Verdacht: Sowohl die motorische Grossrinde, die Bewegungen steuert, als auch die Basalganglien, die für die Koordination von Bewegungsabläufen wichtig sind, waren verletzt. Doch was bedeutet das für Sonjas Entwicklung? Wird sie jemals alleine laufen oder einen Stift in der Hand halten können?

Die Fachpersonen können anhand des Schweregrades und Ort der Verletzungen zwar Vermutungen äussern, aber eine konkrete Prognose ist oft schwierig. «Grundsätzlich gibt es jedoch häufig Grund zur Hoffnung, denn das kindliche Gehirn kann sich erstaunlich gut erholen», sagte Bea Latal, Abteilungsleiterin für Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wissen-schaf(f)t Wissen des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie. Zudem gebe es heute viele Möglichkeiten, das Ausmass von Hirnverletzungen zu vermindern und die betroffenen Hirnfunktionen zu trainieren, fügte sie an.

Vorausschauend handeln

Am besten ist es natürlich, Situationen zu vermeiden, die zu Verletzungen führen können. Doch das ist nicht immer möglich. Solche Situationen können zum Beispiel Unfälle sein, die trotz Vorsichtsmassnahmen immer geschehen können, oder ein Sauerstoffmangel vor oder während der Geburt, was nicht immer erkenn- oder voraussehbar ist. Eine besondere Risikosituation ist die Frühgeburt: Bei durchschnittlich 25 Prozent aller Kinder, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren werden,  kommt es zu Blutungen im Gehirn. Dies weil Blutdruckveränderungen noch nicht gut reguliert werden und die Blutgefässe noch nicht ausgereift sind, sodass diese leicht verletzlich sind. Eine Hirnblutung kann zu einer Unterversorgung des Hirngewebes führen, welches dann absterben kann.

«Wir können heutzutage Frühgeburten häufig noch nicht verhindern, aber wir haben einige Möglichkeiten, dank Medikamenten und frühen Therapien das Gehirn vor den Folgen einer möglichen Verletzung zu schützen und den Schaden zu mindern», erklärte Latal. Darüber ist kürzlich eine Übersicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen (siehe Literaturangaben). «Ich finde die Publikation grossartig, weil sie uns hilft zu verstehen, welche Optionen wir haben und welche die besten Resultate erzielen», sagte Latal. So kann man nachlesen, dass Zerebralparesen zum Beispiel um 30% reduziert werden können, wenn bei drohender Frühgeburt vor der 30. Schwangerschaftswoche der Mutter Magnesiumsulfat verabreicht wird. Weiter sind Hirnblutungen seltener, wenn die Mutter bei drohender Frühgeburt Kortikosteroide einnimmt. Auch das als Dopingmittel bekannte Erythropoetin kann Hirnverletzungen durch Sauerstoffmangel verhindern und die Hirnentwicklung positiv beeinflussen, wenn es früh nach der Geburt dem Kind verabreicht wird.

Bei Sonja war Vorausschauen nicht möglich, die Schwangerschaft verlief normal bis zum Termin, jedoch trat unerwartet während der Geburt ein Sauerstoffmangel ein. Bei ihr wurde eine therapeutische Kühlung angewendet, um die Hirnverletzung einzugrenzen: Dabei werden die betroffenen Kinder innerhalb von sechs Stunden nach der Geburt für drei Tage auf eine kühle Unterlage gelegt, um die Körpertemperatur auf etwa 33-34°C zu reduzieren. Diese kontrollierte Kühlung verlangsamt, ähnlich wie bei einem Winterschlaf von Tieren, den Stoffwechsel und führt dazu, dass weniger Hirngewebe verletzt wird. Die Wahrscheinlichkeit für eine motorische und geistige Behinderung wird so deutlich reduziert.

Bei bestehenden Verletzungen hilft Gehirntraining

Wenn trotz aller Massnahmen Verletzungen auftreten und Hirngewebe abstirbt, ist es wichtig, das Gehirn zu trainieren, um seine Plastizität, also seine Fähigkeit, sich anzupassen und neu zu modellieren, möglichst auszunutzen. Dies ist bei Kindern oft erfolgreicher als bei Erwachsenen, je nachdem, welche Gehirnareale betroffen sind. «Das ist aber nicht erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, wie sich das Gehirn entwickelt», erklärte Latal. Die Gehirnmasse wird zwar zum grossen Teil vor der Geburt angelegt, die Nervenzellen bilden aber viele Netzwerke erst in den ersten Lebensmonaten aufgrund von Erfahrungen, die der Säugling erlebt. Danach werden erfolgreiche Verbindungen gestärkt und viele andere wieder abgebaut. In dieser Phase bis zur Adoleszenz ist das Gehirn sehr flexibel und die verbleibenden Nervenzellen können nach einer Hirnverletzung neue Wege finden, um sich zu verknüpfen. Um diese natürliche Plastizität zu unterstützen, ist ein gezieltes Training nötig. Wichtig für die Kinder sind vor allem ein motivierendes Umfeld und spezifische Übungen, die gezielt die gewünschten Fähigkeiten fördern. Dadurch werden Verbindungen gestärkt, die für das Erlangen der gewünschten Fähigkeit nötig sind.

Stolz durchs Leben nach einem Sturz aus dem Fenster

So konnte die heute achtjährige Anja eine schwere Hirnverletzung weitgehend wettmachen. Bei ihrem Sturz aus zehn Metern Höhe hatte sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten und ein Teil des Hirngewebes auf der linken Seite war verletzt. Bereits zwei Jahre später konnte das Mädchen bereits wieder selbstständig laufen und ihre Hände benützen. «Die rechte Hand kann das jetzt auch, sie hat soo laaange müssen warten», erklärt das stolze Mädchen in einem Video, während dem sie Münzen mit der rechten Hand in eine kleine Schachtel einfügt. Anja sei sehr gut entwickelt und habe eine normale Intelligenz, sagte Latal. Nur ihr Arbeitstempo sei noch langsamer. In der Schule werde darauf Rücksicht genommen und sie könne dort in ihrem Tempo arbeiten. Es sei bei diesen Kindern besonders wichtig, sie möglichst individuell zu begleiten und ihnen Zeit zu lassen, fügte Latal an.

Und Sonja?  Sie entwickelte sich intellektuell unauffällig, ist aber motorisch beeinträchtigt, was nicht erstaunlich ist, da vor allem Hirnregionen verletzt wurden, die für die Motorik wichtig sind. Erst mit vier Jahren schaffte sie die ersten Schritte mit einem Puppenwagen als Gehhilfe. Auch ihre Nervenzellen haben aber schliesslich viele neue Wege rund um die Verletzungen gefunden, so dass sie heute, mittlerweile 13-jährig, ohne Hilfe sehr gut laufen kann. Sie hat zwar noch feinmotorische Schwierigkeiten und besucht eine Sonderschule für körperlich beeinträchtigte Kinder, sie wird aber dort ihrer Fähigkeiten entsprechend gefördert. «Dank ihrem enormen Willen wird sie ihren Weg gehen», ist Bea Latal überzeugt.