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Linguistikzentrum Zürich

Gedanken lesen

Dank Neurotechnologie könnte es bald möglich sein, unsere Gedanken zu lesen, sagt Balthasar Bickel. Das ist medizinisch interessant, aber auch gefährlich. Der Linguist über die Zukunft unserer Sprache – und ihre Ursprünge.
Roger Nickl
Balthasar Bickel
«Mind Reading› ist zwar noch Science Fiction, aber wir nähern uns dieser Science Fiction an – die Gefahren, die davon ausgehen, sind ver­gleichbar mit der Ent­wicklung der Atombombe», sagt Linguist Balthasar Bickel.

Balthasar Bickel, der neue Nationale Forschungs­schwerpunkt (NFS) «Evolving Language», den Sie leiten, erforscht die Entwicklung und Evolution der Sprache. Momentan wälzt die Digitalisierung die Gesellschaft um. Wie wirkt sich das auf unsere Sprache aus? 

Balthasar Bickel: Zentral für das Verhältnis von Digitalisierung und Sprache sind meines Erachtens Fortschritte in der Neurotechnologie. Die Wissenschaft verfügt heute über ausgeklügelte computergestützte Verfahren der Signalentschlüsselung. Auf Grund der elektrischen Aktivitäten im Hirn wird es schon bald möglich sein, vorherzusagen, was jemand denkt, bevor er oder sie es sagt. Das sind fantastische Szenarien zum Beispiel für Aphasiepatientinnen und -patienten, die nicht mehr sprechen können. Sie hätten dann die Möglichkeit, sich mit Hilfe einer Computerschnittstelle zu äussern. 

Was kann man heute schon konkret machen?

Bickel: Einem Team in den USA ist es kürzlich gelungen, mit einem Elektrokortikogramm – das sind Elektroden, die man während einer Operation direkt auf das Gehirn legt – zu rekonstruieren, was ein Patient im Stillen für sich gesagt hat. Er hat es eben nicht ausgesprochen, sondern nur gedacht.

Das klingt gespenstisch. 

Bickel: Stimmt, so toll diese Perspektive für die therapeutische, medizinische Anwendung ist: Wir können direkt in die Kommunikation von Mensch zu Mensch eingreifen. Die Gedanken sind ja angeblich frei und wir äussern nur das, was wir wollen. Wenn wir nun Gedanken von Menschen lesen können, die sie sich nur sprachlich vorstellen, aber nicht durch Laute oder Gesten äussern, ist das unglaublich gefährlich. Denkt man an den Einsatz in Politik und Militär, sind das Horrorvorstellungen. 

Lügendetektoren haben dann ausgesorgt?

Bickel: In einem gewissen Mass, ja. Wir könnten zum Beispiel herausfinden, was jemand zu sagen plant, aber dann letztlich im entscheidenden Moment doch nicht äussert. Das sind Schreckensszenarien. Damit verändert sich die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren können, fundamental. Das wäre ein Quantensprung in der Kommunikation, der evolutionär von grösster Bedeutung ist. 

Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Bickel: Am NFS sind wir überzeugt, dass die Gefahren, die da auf uns zukommen, vergleichbar sind mit der Entwicklung der Atombombe. Das ist zwar weitgehend noch Science Fiction, aber wir nähern uns dieser Science Fiction an. Das Thema «Mind Reading» war eine wichtige Motivation für den neuen NFS. Es ist noch viel zu wenig darüber bekannt, das beschäftigt mich. Unser Ziel ist es, die Öffentlichkeit für die Thematik zu sensibilisieren. Wir wollen zeigen, was absurde Science Fiction ist und was tatsächlich möglich werden könnte. 

Wie machen Sie das? 

Bickel: Wir müssen in dieser Forschung an der Spitze mit dabei sein, um sie besser zu verstehen. Deshalb betreiben wir selbst auch Neurotechnologie – ethisch begleitet und mit dem Ziel, Methoden und Resultate öffentlich zu machen. Wir wollen auch Empfehlungen an die Politik machen, wenn wir sehen, dass eine Entwicklung für die Gesellschaft gefährlich werden könnte. Momentan untersuchen wir zum Beispiel in verschiedenen Forschungsprojekten, was im Hirn passiert, wenn jemand einen Satz plant. 

Sie lesen die Grammatik des Hirns?

Bickel: Wir lesen, wie das Gehirn grammatische Strukturen plant. Wir können zum Beispiel relativ genau sagen, was für eine Art Satz jemand plant, und unsere Kolleginnen in Genf können relativ genau bestimmen, welche Laute jemand dabei im Kopf hat. Die grosse Schwierigkeit ist zurzeit noch, die Bedeutung zu erfassen. In diesem Bereich sind wir momentan noch am schlechtesten. Aber auch da gibt es Fortschritte, da wird noch einiges zu erwarten sein. 

Ein anderes Digitalisierungsthema sind Maschinen, mit denen wir immer häufiger kommunizieren – etwa Bots wie Siri und Alexa. Wie verändert das die Sprache?

Bickel: Es stellt sich etwa die Frage, weshalb die Kommunikation mit Bots letztlich gar nicht so gut funktioniert. Kolleginnen und Kollegen von mir untersuchen in diesem Zusammenhang, weshalb Menschen mit Siri überdeutlich sprechen. 

So, wie wir mit älteren Leuten sprechen, die nicht mehr gut hören? 

Bickel: Ja, und das verstehen solche Systeme besonders schlecht, weil sie auf Normalsprache trainiert sind. Das ist ein interessantes Phänomen. Wir nehmen die Maschine offensichtlich nicht für voll. Die Frage ist nun: Müssen wir uns umtrainieren oder die Maschinen? 

Werden wir uns an sprechende Maschinen gewöhnen? 

Bickel: Ich denke, das wird uns verblüffend leicht fallen. Der Mensch hat sich auch ans Telefonieren gewöhnt. Das war ein Bruch in der Kommunikation, den wir nicht unterschätzen dürfen. Plötzlich fehlte ein zentraler Faktor der Kommunikation, die Gestik. Das war vermutlich der grös­sere Sprung als der zur Kommunikation mit sprechenden Maschinen. 

Am NFS «Evolving Language» beschäftigen Sie sich auch mit der Sprachenvielfalt. Heute dominieren weltweit Sprachen wie Englisch und Mandarin, viele kleinere Sprachen sterben aus. Was bedeutet der zunehmende Verlust von sprachlicher Vielfalt?

Bickel: Das ist eine problematische Entwicklung, die wir genau beobachten müssen. Die ständige Aufspaltung in Dialekte und Sprachen ist eine natürliche, biologisch gegebene Eigenschaft menschlicher Kommunikation. Wenn wir uns hier verändern und immer mehr Vielfalt verlieren, hat das Konsequenzen. Dazu ein Beispiel: In Neuguinea leben Menschen, die über mehr als zwanzig Wörter für Zuckerrohr verfügen. Dieser differenzierte Wortschatz widerspiegelt ein hochraffiniertes Wissen über die Pflanze. Wenn er nun verloren geht, verliert die Kultur auch ihren differenzierten Umgang mit Zuckerrohr. Der Umgang mit der Umwelt wird unangemessener und konfliktreicher. 

Weshalb? 

Bickel: Die Menschen nehmen dann keine Rücksicht mehr auf die verschiedenen Zuckerrohrarten. Diese werden vielleicht durch eine Sorte ersetzt, mit der alles gemacht wird. Dadurch wird die Biodiversität eingeschränkt. 

Die Reduktion des Wortschatzes und der Sprachenvielfalt führt zu einem Verlust von Biodiversität? 

Bickel: Sprachdiversität ist immer mit der Biodiversität einhergegangen, dafür gibt es viele Belege. Geht die sprachliche Vielfalt verloren, wie dies heute der Fall ist, geht diese Korrelation verloren und wir gehen entsprechend weniger naturgemäss mit der Umwelt um. 

Wir müssten in den aktuellen Nachhaltigkeitsdebatten also auch über Sprachenvielfalt diskutieren? 

Bickel: Unbedingt, das ist ganz wichtig und wurde bisher vernachlässigt. Eine weitere Konsequenz des Sprachensterbens: Mit jeder Sprache, die verloren geht, verlieren Menschen auch einen wichtigen Teil ihrer Identität. Überall dort, wo Sprachen am Aussterben sind oder vor kurzem ausgestorben sind, kann man ein erhöhtes Potenzial für ethnische Konflikte feststellen. Das ist empirisch zwar noch nicht bestätigt, aber es gibt Hinweise, die in diese Richtung gehen. 

Wie erklären Sie sich das? 

Bickel: Eine Hypothese ist, dass Menschen, die ihre Muttersprache verlieren, sich neue Identitäten suchen. Das sind dann häufig politische oder religiöse Merkmale, mit denen sie sich eine neue Identität konstruieren. Damit steigt auch das Konfliktpotenzial. 

Sie haben im Zusammenhang mit dem Thema «Gedanken lesen» von einem evolutionären Sprung in der Kommunikation gesprochen, der sich anbahne. Wenn wir in der Sprachgeschichte zurückblicken: Welches waren andere bedeutende evolutionäre Sprünge?

Bickel: Ein entscheidender Sprung war sicher die Explosion unseres Wortschatzes, die Möglichkeit, laufend neue Begriffe zu prägen und Sprache damit permanent zu verändern. Das war eine entscheidende Entwicklung innerhalb der menschlichen Evolution. 

Wann hat dieser Sprung stattgefunden? 

Bickel: Der Neandertaler, aber auch der noch früher lebende Homo erectus war vermutlich schon ähnlich sprachbegabt wie wir. Wir wissen auch, dass das Gehör von Neandertalern sehr ähnlich war wie das unsere. Und er hatte das gleiche FoxP2-Gen wie wir Menschen, das unter anderem eine differenzierte Aussprache ermöglicht. Alles zusammengenommen muss man annehmen, dass die menschliche Sprache schon beim Homo heidelbergensis, also vor 500000 Jahren, ziemlich sicher aber schon viel früher, existierte. 

Die flexible Sprache, die Fähigkeit, laufend neue Begriffe zu erfinden und miteinander zu verknüpfen, unter­scheidet uns von den Tieren. Wie ist sie entstanden? 

Bickel: Für die Wortschöpfung und Begriffsbildung war die Entwicklung einer sehr ausgeprägten Lernfähigkeit sicher der entscheidende Sprung. Darüber, wie die syntaktische Komplexität entstanden ist, ist sich die Wissenschaft weniger einig. Dazu gibt es viele unterschiedliche Theorien, aber wenig Daten. Die Forschung kommt da nicht wirklich vom Fleck. Wir möchten das Thema deshalb neu angehen und untersuchen, wo die Wurzeln von Syntax und Grammatik sind. Wir untersuchen dazu zum Beispiel, wie Menschen und andere Primaten Ereignisse wahrnehmen. Wir gehen davon aus, dass dies fundamental dafür ist, wie unsere Grammatik funktioniert. 

Können Sie ein Beispiel machen? 

Bickel: Nehmen wir den Satz «Der Gorilla frass eine Banane». «Gorilla» ist hier Agens, «fressen» das Ereignis und «Banane» das Opfer/Patiens. Diese drei Kategorien sind für die Syntax aller Sprachen fundamental. Wir vermuten, dass sie bereits in unserer vorsprachlichen Wahrnehmung der Welt verankert sind. Wir nehmen die Welt in diesen Kategorien wahr. Die wichtige Frage ist jetzt: Wie ist das bei unseren Verwandten, den anderen Primaten? Um sie zu beantworten, beobachten wir zurzeit Menschenaffen. Wir zeigen den Affen Szenen, die sie interessieren, und analysieren, ob ihre Blickbewegung und Aufmerksamkeit ähnlich ist wie bei Menschen oder eben anders. Wir hoffen, damit mehr über das Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung zu erfahren und Hinweise darauf zu erhalten, was die Basis für Syntax und Grammatik ist. 

Um solche Fragen zu beantworten, spannen im neuen NFS Forschende aus Linguistik, Biologie und Neurowissenschaften zusammen. Was bringt das? 

Bickel: Das Zusammenspiel von Linguistik, Biologie und Neurowissenschaften macht es möglich, die grossen Fragen nach dem Ursprung und der Zukunft von Sprache wirklich anzugehen. Wir können viel voneinander lernen. Die ­Linguistik ist traditionell geprägt von grossen Theorien, die die Unterschiede von Mensch und Tier betonen. Die müssen wir vielleicht etwas relativieren. Die Geisteswissenschaften betrachten den Menschen zuweilen ganz von der Evolution losgelöst – als ob er die Verbindung zu seinem Ursprung als Tier gekappt hätte. Ich glaube, es ist viel produktiver, wenn wir diese Kluft nicht betonen, sondern zu überbrücken versuchen. 

Der neue NFS läuft im besten Fall zwölf Jahre – was wollen Sie in dieser Zeit erreichen?

Bickel: Im Idealfall haben wir die Entwicklungen in der Neurotechnologie punkto «Gedanken lesen» so gut verstanden, dass wir der Politik Rat geben und die neuen Technologien dort einsetzen können, wo es ethisch verantwortbar und sinnvoll ist. Um in dieser Entwicklung weiterzukommen, müssen wir aber zuerst die Biologie unserer Sprachfunktionen im Hirn und die sozialen Bedingungen für ihr Entstehen ergründen, das heisst, wir müssen verstehen, wie sie im Lauf der Evolution überhaupt erst entstanden sind. Wir wollen wissen, woher sie kom­men, wie und wann sie sich entwickelt haben und wie sie sich von denen der Tiere unterscheiden. Ich hoffe, dass wir in zwölf Jahren den Stammbaum unseres Sprachvermögens zeichnen können. So, wie wir die evolutionäre Entwicklung des Auges aufzeigen können, möchte ich die Stammesgeschichte der Sprache von den Tieren bis zum Menschen erzählen können.