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Ethik

Die Reflexion belohnen

UZH-Studierende der Medizin beschäftigten sich bereits im ersten Semester mit ethischen Fragen. Für die Essays, die daraus entstehen, wird neu ein Preis verliehen. Selina Steiger wurde diese Woche an einer öffentlichen Jurierung mit dem ersten «Premio Pusterla Junior» ausgezeichnet.
Adrian Ritter
Ethische Fragen anhand eines Falls reflektieren: Im Bild (v.l.n.r.): Ethikprofessorin Nikola Biller-Andorno, Preisträgerin Selina Steiger, die Finalistinnen Gioia Epprecht und Andrina Singelmann sowie Hildegard Keller, Professorin für deutsche Literatur. (Bild: Giovanni Spitale)

 

Warum hatte er die Notfallzentrale verständigt? Der Anrufer berichtete, er habe sich absichtlich eine Stichverletzung im Bauch zugefügt – und drohte damit, sich anzuzünden, falls Hilfe geschickt werde. Das ethische Dilemma, vor dem sich die Ärztin der Notfallzentrale befand, war erdrückend: Sanität und Polizei schicken und eine Selbstverbrennung riskieren? Oder nichts tun und den Anrufer im schlimmsten Fall verbluten lassen? Die Ärztin entschied sich, die Rettungskräfte zu schicken. Als diese eintrafen, setzte sich der Anrufer tatsächlich in Brand und verbrachte danach sechs Monate mit schweren Verletzungen auf der Intensivstation.

Was hatte sein Anruf zu bedeuten – wollte er überleben oder nicht? In ihrem Essay beleuchtete die Medizinstudentin Selina Steiger ausgehend von einem Medienbericht über das Geschehnis die ethischen Fragen, die damit verbunden sind. Für ihren Text wurde sie vergangene Woche mit dem erstmals verliehenen «Premio Pusterla Junior» ausgezeichnet. Gestiftet haben den Preis der Tessiner Arzt und Brustkrebs-Spezialist Edio Pusterla und die UZH Alumni.

Abschied vom Multiple Choice

Dass sich Selina Steiger bereits im ersten Semester des Medizinstudiums mit komplexen ethischen Fragen beschäftigt, ist kein Zufall. Ihr Essay entstand im Kurs «Grundlagen der Ethik in der Medizin», der für alle Studierenden obligatorisch ist. Die Kursleiterin Nikola Biller-Andorno ist Professorin für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich. Sie entschied sich vor zehn Jahren, die erfolgreiche Teilnahme nicht per Multiple Choice zu prüfen, sondern ethische Fragen in der Form von Essays behandeln zu lassen. Das mache gerade im ersten Semester grossen Sinn: «Zu Beginn des Studiums ist einem das Erleben der Patientinnen und Patienten noch besonders nah. Die Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen, sollten die Studierenden auch in ihr Arzt-Sein hineintragen», so Biller-Andorno.

In den vergangenen Jahren entstanden im Kurs zahlreiche sehr gute Texte. Deshalb möchte Biller-Andorno diese fortan einem breiteren Publikum zugänglich machen. «Ausserdem finde ich es sinnvoll, wenn es neben Preisen im Bereich der klinischen Medizin und der Grundlagenforschung auch einen Preis für Medizinethik gibt», so Biller-Andorno. Beteiligt am Konzept des Essay-Wettbewerbs war auch Hildegard Keller, UZH-Professorin für deutsche Literatur und Mitglied des SRF-Literaturclub-Kritikerteams. Sie unterstützte die Studierenden mit einem Schreibcoaching.

Die Juroren beurteilten sowohl die ethische Argumentation wie die literarische Qualität der Texte. Im Bild (v.l.n.r.): Michael Fehr, Brida von Castelberg und Raoul Schrott. (Bild: Giovanni Spitale)

Kritische Juroren

55 Studierende reichten einen ersten Text ein – mit einer Themenbandbreite von der Sterbehilfe bis zur ärztlichen Teilnahme an Ausschaffungsflügen von Flüchtlingen. Am Mittwoch durften die drei Finalistinnen Gioia Epprecht, Andrina Singelmann und Selina Steiger in einem öffentlichen Finale ihre Texte vortragen. Gioia Epprecht setzte sich in ihrem Essay mit den tragischen Erlebnissen einer Migrantin im Spital auseinander. Der Text von Andrina Singelmann handelte von einer magersüchtigen Jugendlichen, die zwangseingewiesen wird.

Die Jury bestand aus der ehemaligen Chefärztin der Triemli-Frauenklinik Brida von Castelberg, dem österreichischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott sowie Michael Fehr, Autor und Träger des Schweizer Literaturpreises 2018.

Die Juroren nahmen eine kritische Begutachtung sowohl der ethischen Argumentation wie der literarischen Qualitäten vor – im Falle von Raoul Schrott eine bisweilen etwas gar harte Kritik. Am Schluss war sich die Jury alles andere als einig: Jede der drei Finalistinnen erhielt eine Stimme. So war es am Publikum, den Entscheid zu treffen: Selina Steiger gewann mit ihrem Text «Ein Messer, ein Feuer und viele offene Fragen – ethische Konflikte und ihre Folgen» den ersten «Premio Pusterlo Junior».

Als Jurymitglied hatte Michael Fehr für den Text von Selina Steiger votiert. Er lobte die glaubwürdige ethische «Suchbewegung» der Autorin.  Zudem schätzte er, dass die angehende Ärztin sich auch erlaubte, ihre Überforderung einzugestehen: «Das ist für mich Teil einer ehrlichen menschlichen Existenz.»