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Cyborgisierung

«Siri hat immer Lust»

Gehört die Zukunft den Cyborgs und intelligenten Maschinen? Der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn und der Ethiker Johann Roduit über die Zukunft des Menschen und unserer Gesellschaft.
Thomas Gull und Roger Nickl

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Blicken in die Zukunft: der Germanist Philipp Theisohn (links) und der Ethiker Johann Roduit im Gespräch. Bild: Jos Schmid
Blicken in die Zukunft: der Germanist Philipp Theisohn (links) und der Ethiker Johann Roduit im Gespräch. Bild: Jos Schmid

 

Johann Roduit, Philipp Theisohn, der britische Künstler Neil Harbisson hat sich eine Antenne, die Töne empfangen und in Farbwahrnehmungen umwandeln kann, in den Schädel einpflanzen lassen. Er gilt als erster offiziell anerkannter Cyborg, wie man Mischwesen aus Mensch und Maschine nennt. Werden wir Menschen in Zukunft mit Maschinen und Technik verschmelzen?

Johann Roduit: Ich weiss nicht, ob er ein Modell für die Zukunft ist. Harbisson nutzt eine neue Technik, um damit ein Defizit auszugleichen, denn er kann seit seiner Geburt nur schwarz-weiss sehen. Seine Behinderung wurde auf diesem Weg beseitig. Doch mehr als das: Harbisson kann heute auch Wellen im Infrarot- oder Ultraviolett-Bereich wahrnehmen. Das können Menschen normalerweise nicht. 

Harbisson hat dank der Technologie nicht nur sein Defizit ausgeglichen, sondern seinen Fähigkeiten auch erweitert, in der Fachsprache nennt man das Enhancement, er kann jetzt mehr als Nichtbehinderte. Kann eine Behinderung zum Vorteil werden?

Roduit: Es gibt andere Beispiele von Menschen, die zum Beispiel High-Tech-Prothesen tragen, und betonen, dass sie bessere Arme und Beine haben als normale Menschen. In der ethischen Debatte kann man feststellen, wie Behinderung unter anderen Vorzeichen diskutiert wird – tatsächlich nicht nur als Nachteil, sondern auch als potenzieller Vorteil. 

Wird der intakte Körper zum Handicap etwa für Spitzensportler?

Philipp Theisohn: Das prominenteste Beispiel dafür ist der südafrikanische Leichtathlet Oscar Pistorius, der mit seinen Unterschenkelprothesen wohl schneller rannte als er das ohne konnte. Oder die Paralympics: in der Werbung für den Anlass wird die Geschichte einer guten Schwimmerin erzählt, die ein Bein verliert, mit einer Prothese wieder zu trainieren beginnt und unheimlich gut wird. Sie macht den Sprung von disabled zu superabled. Die Behinderung mündet also schlussendlich in eine Super-Fähigkeit, die ihr vorheriges Leistungsvermögen übersteigt. Das markiert natürlich einen kultur­historischen Bruch. Hier fangen neue Geschichten an.

Welche?

Theisohn: Maschinen erlauben uns jetzt, auf einer anderen Ebene Wettbewerb zu betreiben. Das ist auch der grosse Streit. Früher haben Menschen gefordert, dass sie trotz Behinderung an der normalen Leichtathletik-WM mitlaufen können. Heute ist das eine Gefahr für die Athleten ohne Behinderung, weil es Läufer oder auch Dreispringer gibt, die dank ihrer Prothesen ganz andere Fähigkeiten haben als konventionelle Sportler. Cyborgs sind eine Realität. Im Sport sind sie angekommen und wachsen auf diesem Weg in die Gesellschaft hinein. 

Der Sport ist die Spielwiese, auf der der Übermensch der Zukunft getestet wird? 

Roduit: Der Sport ist tatsächlich eine Art Labor, in dem die Grenzen unseres Körpers ausgetestet werden. Schneller, höher, stärker – das ist die Maxime bei sportlichen Wettbewerben. Sportler wollen laufend ihre Leistung verbessern und vor allem auch besser sein als die Konkurrenz. Im Sport, aber auch im Militär wird heute das Enhancement von morgen erprobt. Auch beim Militär geht es darum, mit technologischen Mitteln die Fähigkeiten der Soldaten zu erweitern. Es gibt dort auch Prothesen oder künstliche Linsen, mit denen man einen entfernten Gegenstand heranzoomen kann. Für Heckenschützen ist das eine sehr erwünschte Fähigkeit. Das Narrativ, dass sowohl beim Sport als auch beim Militär unterlegt ist, ist der Wettbewerb. Das ist aus ethischer und philosophischer Perspektive der eigentliche Punkt. Denn wir müssen uns als Gesellschaft fragen, ob Kompetition das dominierende Narrativ sein soll. 

Theisohn: Richtig. Zugleich darf man – und durchaus erleichtert – feststellen, dass wir gerade dabei sind, die Grundlage eines im Kern diskriminierenden Denkens aufzugeben. Wenn wir bisher von Behinderungen gesprochen haben, so setzt das ein Menschenbild voraus, das auf bestimmten Fähigkeiten und einem vermeintlich vollkommenen, intakten, natürlichen Körper basierte. Unter diesen Voraussetzungen gibt es Menschen, denen etwas zum kompletten Menschen fehlt. Doch anstelle der Krücke oder der Brille haben wir nun intelligente Körperteile, die die Fähigkeiten des Körpers erweitern. Das verrückt unser Menschenbild.

In welcher Weise?

Theisohn: Wer sich beispielsweise als Ziel setzt, der schnellste Mann, die schnellste Frau auf der Erde zu sein, dieses Ziel aber nur mit speziellen Prothesen zu erreichen ist, der muss die Konsequenzen ziehen...

...und die Beine amputieren?

Roduit: Bei Pistorius war das im Grunde so. Er sass als Kind im Rollstuhl. Die Eltern haben beschlossen, die Beine zu amputieren, damit er Prothesen bekommt. Da wurde also mutwillig eingegriffen, um einen Upgrade zu bekommen. Von diesem Gedanken, mit einem Eingriff an unserem Körper seine Fähigkeiten zu erweitern, sind wir nicht weit entfernt. Eigentlich sind wir sogar schon längst dabei.

Verändern die Maschinen auch unser Gehirn?

Theisohn: Bei mir im Seminar sitzen zwar keine Studierenden mit Antennen im Schädel, aber die allermeisten haben einen Laptop. Das heisst, sie sind im Grunde genommen schon an maschinelles Wissen angeschlossen. Wir arbeiten heute schon in Cyborgstrukturen. Das gilt für unsere Gesellschaft ganz allgemein.

Die Geräte sind aber noch extern, das sind keine implantierten Chips oder Ähnliches. 

Theisohn: Aber die Cyborgisierung findet schon statt, ganz egal, ob wir an externe Geräte angeschlossen sind oder intelligente Prothesen tragen. Die technologischen Möglichkeiten verändern unsere Denkstrukturen, unser Begehren, unsere Tages- und Lebensplanung, unser Liebesleben. Das ist mittlerweile alles schon digital angelegt, das machen wir uns viel zu selten klar. Auch unsere Smartphones sind viel mehr als Telefone und Auskunftsmaschinen; sie sind die Schnittstelle in eine andere Welt mit ganz eigenen Gesetzen. Wenn wir uns mit Maschinen kurzschliessen, verändern wir damit auch unsere Bedürfnisse, weil Maschinen mit einer ganz anderen Geschwindigkeit operieren. Ich bin überzeugt, dass etwa Kommunikation über WhatsApp ganz andere Leidenschaften, andere Erwartungen, andere Bedürfnisse auslöst, als beispielsweise eine Beziehung, die über Postkarten läuft oder bei der man sich regelmässig sieht. 

Wie verändern sich denn unsere Bedürfnisse?

Theisohn: Die Maschine ist ausdauernd. Siri hat immer Lust, für mich zu arbeiten. Wenn ich das Bedürfnis habe, dass andere auf mich reagieren, kann ich mich bei WhatsApp permanent auf standby halten. Jede Form von Reaktion, selbst wenn ich keine zeige, ist ein Zeichen. Das verändert auch unser Aufregungsniveau. Mit der Gefühlsökonomie, die etwa die Romanzen des 20. Jahrhunderts noch steuerte, können wir diese Geräte gar nicht richtig bedienen. Wir werden so hochgetrieben, dass der Rausch länger dauert, die Ekstasen sich immer rascher wiederholen – und der emotionale Kollaps entsprechend absehbar wird. Datenströme haben eine eigene Dynamik und verändern uns. 

Roduit: Ich diskutiere oft mit Philosophen. Wenn man auf das Leben von Philosophen im 16. und 17. Jahrhundert schaut, so bestand es aus der Bücherlektüre und der Teilnahme an der Gesellschaft. Heute sitzen wir die meiste Zeit vor einem Computer und interagieren mit diesem – das macht uns in einem gewissen Sinne zu Cyborgs. Man könnte auch sagen, dass das entmenschlichend ist. Die Maschinen, das Internet haben uns in unglaublich kurzer Zeit verändert. Ich glaube nicht, dass wir diese Veränderungen in ihrer ganzen Tragweite erkennen.

Dann haben die Maschinen uns also schon unterworfen?

Theisohn: So hätte man das wohl einmal formuliert, aber wir würden uns heute mit dieser Diktion wohl schwertun. Das ist ja gerade der Paradigmenwechsel. Ein Beispiel: Gegen die Volkszählung Anfang der 1980er-Jahre in Deutschland gab es einen riesigen Aufstand, obwohl der Umfang der Daten, die man dort erhoben hat, im Vergleich zu heute lächerlich klein war. Damals wurde moniert, der Staat wolle seine Bürger ausspionieren. Von 2018 aus gesehen erscheint dieser Widerstand grotesk. Heute stehen wir an einem ganz anderen Ort. Wir wissen zwar dass Cambridge Analytica uns manipuliert und was Facebook mit unseren Daten macht, aber dennoch bleiben wir dabei. Weil wir gar nicht mehr zurückkönnen. 

Wie sieht die Zukunft aus? Die Euphoriker sind überzeugt, dass alles besser wird – der Mensch an sich und seine Fähigkeiten. Auf der anderen Seite gibt es Angstfantasien, dass die Maschinen die Macht übernehmen und die Menschen versklaven. Wohin steuern wir? 

Theisohn: Wenn wir es mit selbstlernenden Maschinen zu tun haben, können wir nicht mehr so tun, als ob sie Staubsauger wären. Sie werden vielleicht eine Funktion übernehmen, in der wir von ihnen abhängig sind. Dann wäre es gut, wenn die Maschine nicht mit Menschen umgeht, wie sie dies mit Dingen tut. Sonst haben wir ein Problem. 

Wie können wir dem begegnen?

Theisohn: Die Maschinen lernen ihr Verhalten von uns. Wenn wir sie wie Maschinen behandeln, dann behandeln sie uns ebenso. Wir müssen deshalb anfangen, mit Maschinen menschlicher umzugehen.

Roduit: Wenn wir der Meinung sind, dass alleine die Effizienz zählt, können wir einen Grossteil der Arbeit den Maschinen überlassen. Denn sie arbeiten schneller, besser und effizienter als Menschen. Fragt sich, was wir dann mit den Menschen machen.

Theisohn: Da sind wir an einem entscheidenden Punkt. Die künstliche Intelligenz verändert natürlich unser Arbeitsleben. Bestimmte Arbeiten werden verschwinden und andere an ihrer Stelle entstehen. Es gibt viele Dinge, die Maschinen tatsächlich effizienter machen können. Aus meiner Sicht gilt dennoch: Jene Arbeit, die die Maschinen besser verrichten können als die Menschen, sollen sie auch tun. 

Werden wir überflüssig?

Theisohn: Nein, überhaupt nicht. Überflüssig werden wir nur, wenn wir uns über Tätigkeiten definieren, die Maschinen besser machen können. Aber wir haben vielleicht ja auch einen ganz anderen Zweck. Es könnte bedeuten, dass wir etwas ganz anderes machen könnten mit unserer Zeit und Energie. Das Problem, das wir aber lösen müssen, ist, wie Menschen in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft überleben können, wenn die Arbeit von Maschinen erledigt wird. Dazu gibt es verschiedene Ideen. Ein Beispiel: Heute stellen die wertvollsten Unternehmen auf diesem Planeten gar nichts mehr her – sie verdienen ihr Geld mit Daten, die sie von uns sammeln. Deshalb sollten wir vielleicht für diese Daten bezahlt werden. Oder wir müssen Arbeit und Lohn ganz neu definieren.

Roduit: Wir haben all diese Technologie entwickelt, um uns zu helfen. Nun arbeiten wir aber immer noch gleich lang, wie vor der digitalen Revolution. Mehr als das: Wir sollen immer produktiver werden. Ich denke, wir sollten mehr Pausen einschalten und uns auf anderes konzentrieren. Ich glaube auch nicht, dass wir überflüssig werden – wir werden einfach Menschen sein.

Was müssten wir ändern, um mehr von der Technologie zu profitieren?

Roduit: Ich sehe uns in einem Rattenrennen der ständigen Verbesserung, angetrieben von der Idee, besser und produktiver zu sein als andere. Das ist sicher ein Teil unserer Natur. Daneben ist aber auch die Zusammenarbeit etwas, das uns Menschen auszeichnet. Ich glaube, dass wir mit dem Wettbewerbsgedanken zu weit gegangen sind. Wir sollten wieder mehr kooperieren statt immer produktiver und effizienter sein zu wollen. Wenn wir so weiterdenken wie bisher, werden wir alle behindert sein, weil der Wettbewerb nie endet – ausser vielleicht eines Tages mit einem Cyborg, der alles gewinnt.

Theisohn: Deshalb muss man die Frage fundamentaler stellen. Vielleicht ist die Antwort auf die Frage, was der Mensch ist, eine ganz andere, als wir uns vorstellen. Diese Endlosspirale des Wettbewerbs dreht sich ja nur so lange weiter, wie wir darin verharren. Mittlerweile haben wir unsere Kommunikationsmittel so weit entwickelt, dass wir nicht mehr Schritt halten können und nur noch hinterhergeschleift werden. Ich bezweifle, dass es für uns gut ist, wenn wir ständig mit Maschinen interagieren müssen, weil uns das oft überfordert, denn die Maschinen werden ja nie müde. Deshalb müssten wir uns sagen: Ok, in gewissen Bereichen lassen wir die Maschinen alleine walten. Und wir müssen uns überlegen: Was können wir sonst noch tun? 

Eine friedliche Loexistenz von Mensch und Maschine?

Roduit: Ja, wir sollten uns fragen, wie wir mit Künstlicher Intelligenz, mit anderen Arten, mit der Umwelt besser kooperieren können. 

Theisohn: Unser Ziel müsste sein, nicht im Modus «wir gegen die anderen» zu denken, sondern eine Welt zu erzeugen, in der verschiedene Lebensformen nebeneinander existieren können. Wir werden nicht die Sklaven der Roboter und sie werden nicht unsere Sklaven, sondern sie würden uns dabei unterstützen, ein Leben zu leben, das wir für lebenswert halten. Wenn wir schauen, wie ein Grossteil der Menschheit lebt, kann man sich diesem Wunsch doch nicht ernsthaft verschliessen. Ich bin nicht gerade Euphoriker, aber Optimist, dass die Technologie uns dabei helfen kann, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für viele Menschen zu schaffen.

Sollen wir uns auf die Zukunft freuen?

Roduit: Wir sollten uns drauf freuen, weil sie Neues bringt.

Theisohn: Ja, wir sollten uns darauf freuen, denn wir haben ohnehin keine Wahl. Die Zukunft kommt. So oder so.

Weiterführende Informationen

UZH Magazin

Dieses Interview stammt aus dem UZH Magazin 2/18.